[LSZ - 1854.03.07]
Bekanntlich wurde New-Orleans erst im Jahre 1836 in drei Corporationen
*) abgetheilt, denen man die Benennung
„Municipalitäten“ gab. Diese Municipalitäten sind jetzt **)
in Eine Corporation vereint, mit Einschluß der früheren City
of Lafayette. Die Benennung „Districte“ entsprang aus der
Verschmelzung der Municipalitäten in Eine Stadtecorporation
und ist in dieser Beziehung nicht der von „Municipalities“ analog.
Der Name Municipalität hat etwas so Charakteristisches für unsere
französischen Quartiere, daß die jetzige Benennung durchaus nicht passen will.
Es ist übrigens keine zu tadelnde Manie der Amerikaner,
daß sie nicht nur ihren Städten, sondern auch ihren Straßen die Namen berühmter Männer,
Gelehrten, großer Schriftsteller, Kriegshelden u.s.w. beilegen. Freilich geschieht dieses
Taufen oft auf eine sehr merkwürdige Weise, da die Straßen häufig schon ihre Namen haben, bevor
sie in der Wirklichkeit vorhanden sind. Manchmal geschieht es auch, daß eine Straße
einem bloßen Zufall ihre Benennung verdankt.
Dies ist mit der Washington Avenue der Fall.
Diese empfing dadurch ihren Namen, daß hier ein
ehemaliger „Horse back Pedlar“ seine Bude aufgeschlagen hatte und
den Leuten nichts Anderes verkaufte, als das Bild George Washington's. --
Steigt in Canalstraße in einen „Magazine-Street“ Omnibus und sagt dem
Treiber, er möchte an Washington Avenue „stoppen.“ Ist der Omnibus-Treiber kein Esel oder hat
er nicht andere Dinge im Kopfe -- die Euch übrigens nichts angehen, so wird er seine Pferde am
bezeichneten Orte anhalten, und wenn Ihr ihm seinen Picayune bezahlt oder je nach Umständen das
Ticket abgegeben habt, so steigt aus und wendet Eure Schritte rechts und Ihr werdet an den Live
Oak Square kommen, der den gewaltigen Live Oak Bäumen, die auf dem
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*) Die erste Einheilung unserer Stadt geschah
in vier Wards, im Jahre 1792, durch den damaligen Gouverneur der Provinz, Baron von Carondolet,
dem überaupt New-Orleans zur damaligen Zeit mehrere „Improvements“ verdankte. So
bekam New-Orleans im Jahre 1793 die erste Straßenbeleuchtung, (Gasbeleuchtung wurde erst im
Jahre 1834, zugleich mit den Waterworks, eingeführt) und noch im nemlichen Jahre wurde die
Organisation unserer „Wachtleute“ in's Leben gerufen. Herr von Carondolet ließ ferner im
nemlichen Jahre zwei Forts bauen. Eines am Fuße der Canalstraße, ein Anderes auf demjenigen Platze,
wo jetzt die Münze steht u.a.m. --
**) seit dem Jahre 1852.
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Grundeigenthum des Mister Anderson stehen, seinen Namen zu verdanken hat. --
Live Oak Tree! oder Moosbaum, wie Dich Hermann's biedere
Söhne nennen, Du bist außer den schönen Frauen Louisiana's die einzige Poesie! Deine Palmen,
Louisiana, wo sollen wir sie suchen? Deine Palmetto's genügen uns nicht, sie sind nur die
Aschenbrödel in jener Farrenfamilie, unter deren Schatten das Dromedar niederkniet und der
Beduine ein Mädchen in den Armen wiegt. Louisiana, war Dein Baumeister ein Ignorant, daß er
es nicht vermocht, Dein Himmelsgewölbe von den schlanken, hohen Palmensäulen tragen zu lassen?
Hat er keine bessere Schule gehabt, als nur krüppelhafte Palmetto's zu erschaffen, die ihr Leben vom
Schlamm fristen. Mein liebes Louisiana, Du hast uns in der alten Welt gewaltig viel vorrenommiert,
wie schlank und hoch Deine Palmen und wie majestätisch ihre Krone sei! Wir vergeben. Dir diese Lüge;
denn Deine Live Oaks sind noch schöner als die Palmen Biledulgerid's und Guyana's!
Live Oak Tree! Du bist keine Linde, um die die
lustige Dorfjugend tanzt; in Deine Nähe wagt sich kein Philister; denn Deine Poesie würde ihn
erschrecken und für den Rest seines Lebens unruhig machen. Er würde gewahr werden,
daß Du etwas ganz anderes bist, als ein Eichenbaum im Teutoburger Walde. Wie würde er entsetzt
zurückfahren, wenn ihm Deine langen Haare in's Gesicht wehten! Live Oak Tree, in
Deinem Schatten mit den Töchtern Sodom's zu sitzen, welche erhabene Poesie! --
Live Oak Tree! Hätte Dich nur unser Grabbe gekannt, er wäre nicht im
Drachenfels bei Düsseldorf verkümmert -- er hätte in Deiner Nähe seinen „Don Juan und Faust“
sicher vollendet. Alter Riese Live Oak, Du siehst zwar sehr krank aus und Deine langen Haare
sind gebleicht. Trauerst Du vielleicht über Deine dahingegangenen Brüder, die der
Sohn der Civilisation umgehauen und in Lumberyards gesteckt hat? Du siehst so verwirrt, mein
Live Oak, komm', lass' Dir Deine langen Haare kämmen! --
Wie Alles andere, so muß auch der arme Live Oak dem
Yankee zum Gegenstande seiner Speculationen dienen. Daß
er diesen Baum nur im Geringsten liebte, nur halb so liebte,
wie seine Frau und Babies -- glaubt dies ja nicht! der Live
Oak ist ihm nicht mehr oder weniger, als irgend ein anderer
Baum, und er wäre im Stande, demselben ein Glied nach dem
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Andern abzusägen, wenn ihm jedes Glied ein Lot oder auch nur den hundertsten Theil von dem
Werthe eines Lots eintrüge. Ihr seid Freunde von schönen Gärten, schönen Blumen,
schönen Oleandern, schönen Lila“s und feenhaften Chinabäumen? Macht es uns nur nicht weiß -- wir glauben es doch
nicht. Und sollte sich je unter Euch Einer finden, dem eine eben
aufgebrochene Reine Hortense Rührung abgewänne, so seid versichert,
daß ihr von dieser Rolle einen ganz artigen Korb erhaltet,
denn sie will mit Büsineß-Helden nichts zu schaffen haben.
So ist es eine einmal hergebrachte Routine der Lotspeculanten,
ein Lot mehr gelten zu lassen, wenn ein Live Oak Tree
auf demselben steht. Natürlich gilt dies nur von Grundstücken,
auf denen die Residences unserer Geschäftsleute stehen.
So verliehen die großen Live Oaks, die auf den Grund
stücken des Mister Anderson sich befinden, denselben keinen uns bedeutenden Werth.
Die Wohnung Anderson's, der, von Geburt ein Schwede,
in früheren Zeiten Matrose war, besteht aus einem schmalen,
zweistöckigen Bretterhaus mit schmutzigen, abgefärbten Läden,
rohen vom Alter grau gewordenen Wetterboards und einer
kleinen angebauten Küche. Ueber seinem Dache hängen die
ellenlangen Moose eines Live Oak, defen dicker Stamm
in weiter Entfernung, innerhalb einer anderen Umzäunung,
steht. Weht der Ost oder säuselt eine Brise vom Golfe herauf
durch die verhängten Knäuel und Guirlanden dieser Moose, so
schlagen sie an die Fenster des Wohnhauses oder flattern wie
die greifen Haare eines Mannes weit umher in der Luft, ohne
ihren ihnen von der Natur angewiesenen Standpunkt zu verlassen.
Anderson besaß ein großes Milchgeschäft und hatte zu
diesem Zwecke nebenan einen Stall bauen lassen, der fast die
Tiefe des ganzen Grundstückes einnimmt und in dem seine
Kühe und die zu einem Geschäfte nothwendigen Pferde der
Milchkarren stehen. Zur linken Seite dieses Stalles ist ein
Kessel von bedeutendem Umfange angebracht. Derselbe ist in
eine Vermauerung von Ziegelsteinen gesenkt und dient zum
Kochen des Futters seiner Kühe, das aus einer Mischung von
Kleien, Bohnen und Erbsenhülsen besteht. Eine große Anzahl
Federvieh treibt sich stets um diesen Kessel herum und findet in
dem abgestreiften und an den Seiten herumklebenden Futter
eine treffliche Nahrung. Zwei große Hunde drücken ihren
Körper an die Wärme dieser Kesselmauer, wenn es nasses,
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kühles Wetter ist. Den Raum zwischen dem Wohngebäude und dem Stalle, füllen mehrere
Shanty's aus, in denen die Arbeiter Anderson's wohnen. --
Der Eingang zu den beiden erwähnten Gebäulichkeiten
besteht aus einem großen Thore, vor dem nach innen ein
schwerer Balken gelegt ist und der erst weggenommen werden muß, wenn man eintreten will.
Das Gärtchen vor dem Wohngebäude ist sehr ärmlich gehalten; auch hat
man es bisher vernachlässigt, den schlammigen Boden mit Gartenerde auffüllen zu lassen.
Dieses war nun die bezeichnete Stelle, wohin jetzt
Constanze am Arme ihres Bruders ihre Schritte lenkte.
Obwohl es Tags vorher noch schmutziges, naßkaltes Wetter war,
so glühte heute die Sonne schon wieder wie ein gigantischer
Hochofen und trieb den Frühlingswuchs in einer Zeit
von nur wenigen Stunden aus dem schlammigen Boden heraus an's
belebende Licht. Alle jene Bäume, welche während
der Wintermonate ihr Blätterkleid abgestreift, schauten aus
Millionen Augen und sogen gierig und trunken an der Flammenbrust der Sonne
Louisiana's. Die Magnolias, Oranges, Chinatrees, sowie die übrigen immergrünen Bäume schossen
funkelnd neue Spitzen und beschämten durch ihren frischen
Glanz das dunkelgrüne Winterkleid. Die Spireas, Junipers,
Dentzias und Hollies drückten den alten Blätterstaub von sich
und trieben mit Ungestüm in’s neue Frühlingskleid. Auf den
Tellern der rothen Ceder erging sich wieder der kleine rothe
Curculio und steckte seinen Rüssel in’s duftende Blättermark.
Laurier Amandier stolzierte wie ein Pfau und zerriß die Spinnenweben, die dem
Drange seiner Lebenskraft weichen mußten, Der immergrüne Dorn bog seinen alten Stachel ab und drückte
neue nach. -Von den immergrünen Gesträuchen strich die
Mahonia Aquifolia wollüstig ihre weichen Ruthen an die nebenanstehende Myrthe „bright rosy purple“,
die, zurückweichend, der „Queen of the Prairies“ die frischen Keime abdrückt. --
Das ist ein Leben und ein Schaffen, ein Küssen und ein
Drücken, ein Drängen und ein Dringen unter dem glühenden
Himmel Louisiana's -- und das Alles vermögen wenige Stunden. --
Nur der Live Oak steht düster und traurig.
Seine schwarzgrünen Blätter sind unter dem hängenden Moose verborgen und
mögen unter sich wohl ihre Frühlingsgeheimnisse haben -- aber der Live Oak weiß nicht viel davon.
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„Sieh' doch dort oben“, rief Constanze freudig ihren
Bruder zu, der mit ihr über die niedere Fence gestiegen war,
um von da aus in Anderson’s Haus zu treten -- „sieh“, sieh“
nur, dort oben, dieses prächtige Moos; nein, nein, es ist doch
auch zu schön--von hier aus kann man es erst recht genau
sehen-- O, O, und dahinter erst, lieber Bruder, nein, nein,
das ist eine Pracht und ein Reichthum. --“
„Das wäre hinlänglich, um einem ganzen Regimente Sol,
daten seine Matratzen zu stopfen“, fiel Hugo im phlegmatischen Tone ein.
„O, ich glaube aber nicht, daß wir dieses da oben abreißen
dürfen -- es ist gar zu schön!“
„Das wird Anderson ganz gleichgültig sein, von welchem
Baume wir Moos zupfen, wenn er uns nur einmal die Erlaubniß hiezu ertheilt hat.“
„Was willst Du ihm denn sagen, wenn er kommt, Bruder?“
„Ich bitte ihn ganz einfach um die Erlaubniß, Moos herabnehmen zu dürfen.“
„Wenn er Dich aber frägt, zu welchem Gebrauche wir es wünschten?“
„Danach zu fragen, hat so ein Geschäftsmann keine Zeit. Er wird's uns erlauben oder gleich rundweg abschlagen.“
„Wenn er Dich aber dennoch früge?“
„Er frägt aber nicht!“
„Nein - lieber Bruder, ich setze nur den Fall, er früge
Dich? Was würdest Du ihm antworten? Du könntest ihm
doch nicht sagen, daß wir keine Betten haben -- das ginge nicht an!“
„Er frägt aber nicht, Constanze!“
„Nein, nein -verstehe mich doch recht, ich setze den Fall,
er früge Dich -- ich setze nur den Fall.“
Die Ankunft Anderson's unterbrach dieses kleine Scharmützel.
Hugo ging ihm mit seiner Schwester entgegen.
„Mister Anderson, wollten Sie uns wohl die Erlaubnis
ertheilen, einige Arme voll Moos von Ihren Live Oaks herablangen zu dürfen?“
„Zu was?“ frug dieser.
„Siehst Du?“ flüsterte die erschrockene Constanze ihrem Bruder zu.
Wäre Anderson ein Amerikaner gewesen, so hätte er
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sicherlich nicht gefragt, aber die Schweden sind sehr neugierig. sie müssen. Alles wissen.
Man sieht also, daß die Menschenkenntniß Hugo’s betreffs
der Eigenthümlichkeiten der Geschäftsleute auf keiner sichern Bafis ruhte,da er die Nationalität
ausschloß. Constanze hatte demnach nicht so ganz unrecht. --
„Für unser Hühnerhaus!“ erwiederte Hugo schnell besonnen auf des Schweden Frage.
„Für Euer Hühnerhaus?“ wiederholte erstaunt Anderson,
„brauchen denn Eure Hühner Moos zum Schlafen?“
Constanze wäre gerne in den Boden gesunken. Ihre
Verlegenheit überstieg alle Grenzen. Sie wandte sich von den
beiden Männern ab und sah nach den langen Moosen hin, die
das Wohnhaus Anderson's in einem dunklen Rahmen einschlossen.
Sie zirpte und trippte mit den Füßen und dankte
im Stillen ihrem guten Geist, der das Gespräch endlich auf
etwas anderes hinlenkte, nachdem vorher schon die Erlaubniß
ertheilt war, so viel Moos herabzulangen, als man nur wollte.
Hugo hatte so halb und halb die Wahrheit gesagt. Es war zwar ein altes
Hühnerhaus ohne Dach in der Yard, wo ihre Barracke stand, aber es fehlten die Hühner.
Anderson, der ein großer Freund von allen Arten Federvieh
war, fand es schon der Mühe werth, den jungen Mann
zu fragen, welche Art von Hühner sein Chickenhouse berge.
„Verschiedene Arten“, drückte Hugo heraus -- „ein
Creolhuhn ist, glaub' ich, auch dabei -- aber, wie es mit diesem
Federvieh ist, man kann es nie ordentlich zusammenhalten.
Bald läuft das, bald das weg-bald stiehlt der den Rooster
aus der Yard, bald ein Anderer die Bruthenne, und so hätte
man immer vollauf zu thun -- ich könnte jetzt nicht einmal
genau bestimmen, wie viel wir im Hause haben.“
„Dann müßt Ihr nicht viel Acht geben auf Euer liebes Vieh,
bemerkte Anderson. „Ich weiß genau, wie viel ich Hühner
habe, und fehlt mir einmal. Eines, so weiß ich schon, wohin ich
zu gehen habe, um es zu finden. So weiß ich zum Beispiel
nicht weit von hier einen Mann, der so sehr in meine Creolhühner verliebt ist,
daß er es keine vierzehn Tage aushalten kann, ohne nicht eines zu sich zu nehmen.“
Anderson lächelte schelmisch, als er diese Worte sprach.
„Das ist wohl Eure Frau?“ frug er dann.
„Nein, 's ist meine Schwester -- sie hat mich nur hieher
begleitet, um mir zu helfen, Moos herabzunehmen, falls Sie
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uns die Erlaubniß hiezu ertheiten, Mister Anderson“, entgegnete Hugo und stellte seine
Schwester Constanze dem Wholesale Milchmanne vor.
Derselbe nickte mit dem Kopf, schob einen Hut zurück,
daß seine ganze Stirne sichtbar ward und empfahl sich.
„'S ist doch recht ungalant von diesem Manne, daß er
uns nicht einen von feinen Arbeitern mitgegeben hat,“ sagte
Constanze zu ihrem Bruder, indem sie auf den schönsten Live Oak in genanntem Square zugingen.
„Ja-man sollte es ihm von Rechtswegen übel nehmen,
doch vielleicht versteht er's nicht besser“, tröstete Albert, der
durch seine Schwester erst darauf aufmerksam gemacht wurde,
daß Anderson in dieser Hinsicht so wenig Zuvorkommenheit und Galanterie an den Taggelegt. -
Es war ein Charakterzug Anderson's, sich wenig mit dem
schönen Geschlechte abzugeben, und da ihm sein früherer Stand als
Seemann nie in die unmittelbare Nähe von Damen brachte,
so hatte er sich ein patriarchalisches Verfahren gegen dieselben
angewöhnt, um schnell abzubrechen, wo man es nur immer
versuchte, ihn an sich zu fesseln. Er wollte hiemit nichts weiter
bezwecken, als sein linkisches Benehmen vor denselben zu cachiren.
Obwohl er ein beträchtliches Vermögen besaß und schon
ziemlich weit über die Jahre hinaus war, wo man kein junger
Mann mehr ist, sondern ein alter Innggeselle, so konnte er
sich bis jetzt noch nicht entschließen, zu heirathen, aus Gründen,
die sich auf leichte Weise aus dem eben Erwähnten herausfinden lassen.
Constanze gefiel ihm gleich bei ihrem ersten Erscheinen,
und wenn er sich gegen Sie nicht galant benahm, so war nur
sein eigenes persönliches Mißtrauen Schuld. Er befürchtete,
sich albern gegen sie zu benehmen, und da unterließ er es lieber
ganz, ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Folge wird es zeigen, daß dieses unser Raisonnement gegründet ist. -
„Ich weiß nicht, Bruder, wie es mir möglich werden soll,
da hinauf zu kommen, der Live Oak ist doch gar zu dick -
wenn nur Dein Arm wieder bssfer wäre, so könntest Du hinaufsteigen -“
„So, Constanze?“
„Nein, noch nicht, stell' Dich dichter mit der Schulter an
den Stamm und senke Deine linke etwas.“
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„Aber, Hugo, es ist doch recht häßlich von Dir, daß Du noch Späße machen kannst.“
Constanzen war es endlich gelungen, dem alten Live Oak
mehrere Büschel Haare auszuziehen, und je mehr sie sah, wie
sich der Mooshaufen unten vergrößerte, desto stärker wurde sie
angefeuert, hierin fortzufahren. Die Rinde des bösen Live
Oak hatte sie schon wieder mehrmals beleidigt -- aber sie ach
tete jetzt wenig mehr darauf, und wenn sie ihre zarten Händechen
angesehen hätte, würde sie bemerkt haben, daß sie bluteten.
„So, jetzt ist 's genug, Stanzchen, das ist Moos für
wenigstens fünf Bataillone -- steig jetzt wieder herab -- wir
wollen unsern Schatz mit Einander nach Hause bringen --
Tantchen Cölestine kann uns auch helfen, mit hinüberzutragen,
wenn wir das zweite Mal zurückkommen; denn auf Einmal geht es nicht!“
„Nur noch das da oben, Hugo, O diese langen schönen
Moose, wenn ich die noch habe, dann will ich es gut sein lassen!“
„Stanzchen, Stanzchen -- nimm Dich in Acht und sei
nicht so verwegen-es ist viel zu hoch für Dich -- Du könntest
leicht das Gleichgewicht verlieren und herunterstürzen.“
Trotz des wohlgemeinten Rathes ihres Herrn Bruders,
kletterte Constanze immer höher und höher, so hübsch geschickt,
daß man hätte meinen sollen, sie hätte sich eigens hiefür eingeübt.
Jetzt war sie an dem ersehnten Punkte angelangt, von
wo aus sie mit den Händen ihre letzte Beute erhaschen wollte.
Mit der linken Hand hielt sie sich an einem Ast fest, die Kniee
stemmte sie gegen einen andern und war eben im Begriffe
überzubiegen und das superbe Moos zugreifen, da giebt der
Ast, an den ihre Kniee gestemmt sind, nach -- die Verwirrung
läßt sie, statt mit der andern Hand nach vorne, nach hinten
greifen, sie verliert den Spiritus asper der Geistesgegenwart
vollständig und hängt im nächsten Augenblicke zwischen Himmel
und Erde-nur ihre linke Hand hält krampfhaft ein Aestchen, das jede Minute zu zerbrechen drohte.
Hugo, der gerade während dieses bedenklichen Moments
abseits dem Herumschnuppern der in seiner Nähe sich ergehenden Kühe
zugesehen, hatte kaum das Angstgeschrei und Hülferufen
seiner Schwester vernommen, als er seinen schlimmen
Arm vergaß, denselben pfeilgeschwind aus der Binde riß und
mit wunderbarer Behendigkeit auf den Baum kletterte und
seine Schwester in seinen Armen auffing. --
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Constanze war gerettet. Aber jetzt ereignete sich ein Vorfall, der
noch schlimmere Folgen hätte haben können, als das Herabstürzen von dem Live Oak Tree.
Ein Bull nemlich, welcher bisher gemächlich unter den
Blumen seines Harems einherstolzierte, war durch das Hülferufen der armen Constanze in eine
so erbitterte Stimmung gerathen, daß er ein fürchterliches Gebrüll begann und auf
den Live Oak Tree, zwischen defen Aeten sich Bruder und
Schwester eben arrangierten, um sich zum Heruntersteigen
capable zu machen, in weiten Sprungen losstürzte. Zu gleicher
Zeit erhoben die Kühe einen so entsetzlichen Spektakel, daß es
Constanzen ganz bange zu werden anfing und sie sogar den
Bruder bat, es mit ihr zu versuchen, wieder einen Ast
zurückzusteigen, bis Jemand erschiene, der sie aus ihrer gefährlichen Position befreite.
Wie ein durchteufelter Uriel jagte der Bull um den
Stamm des Live Oak herum und bohrte seine kurzen festen
Hörner in blinder Wuth bald in diese, bald in jene Stelle des
Riesenstammes. Rings umher durchwühlte er den Boden,
dann warf er seine Hinterbeine in die Höhe, dann stürzte er
wieder auf den Stamm los und versetzte ihm derbe Stöße,
dann trieb er sich wieder in weiten Kreisen herum und brüllte und stampfte.
Die Kühe, welche ihren werthen Herrn Gemahl auf eine
so haarsträubende Weise sich geber den sahen, stimmten jämmt
lich in den nemlichen Ton ein und machten dieselben verzweifelten Kreuz- und Quersprünge.
Die Arbeiter Anderson's, die sich eben in dem großen
Kuhstalle befanden, um denselben in Abwesenheit seiner Bewohnerinnen von
den unnöthigen Verzierungen und Mille fleurs zu reinigen, sahen mit Staunen
dem entsetzlichen Tanze zu. Sie streckten ihre Köpfe über die Fence und schienen unschlüssig,
was hier zu thun wäre.
„Laßt Eure Hunde herein,“ schrie Hugo denselben von
seinem Verbannungsort herab zu, „sie werden das dumme Vieh wieder in Ordnung bringen!“
Dies that seine Wirkung.
War es angewöhnter Gehorsam oder Scheu vor den
Hunden - es wäre dies schwer zu entscheiden, da bis auf
unsere Tage die Logik der Psychologie der Rinderwelt noch nicht
hinlänglich entwickelt ist-kurz, die bacchantischen Rinder-Mänaden,
mit dem tobenden Satyr an der Spitze, thaten ihren
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Wuthausfällen Einhalt und trabten bald in meisterlicher Ord
nung durch die weit geöffneten Thore des Kuhstalles und
begaben sich auf die ihnen angewiesenen Plätze. Zwar machte
der Bull hin und wieder noch einige Versuche, sultanmäßig
einzuschreiten -aber auch er stellte seine Unart endlich ein und wanderte an seine Krippe. -
Wer war froher als Hugo und Constanze? Freudig
umhalsten und küßten sich Bruder und Schwester, als sie wieder
festen Boden unter ihren Füßen verspürten.
„Wie kommt es aber, daß Dein Arm so plötzlich gesund
geworden ist, Hugo?“ frug Constanze schelmisch lächelnd ihren Bruder.
„Dir zu Lieb“, Schwester, ist er auf einige Augenblicke
geheilt,“ antwortete Hugo und legte seinen Arm wieder in die
Binde; denn er that ihm jetzt, wo seine Aufregung, in die ihn
die gefährliche Lage seiner Schwester und die weiteren Vorfälle
versetzt, vorüber war, doppelt weh.
„Du hast Dir wohl weh gethan, Hugo -- -- schmerzt Dich
Dein Arm wieder?“ sagte besorgt Constanze.
„O, das hat nichts zu bedeuten, Schwester -- es ist doch
noch immer besser, als es schmerzte Dich ein Arm -- komm
jetzt und laß uns das Moos wieder zusammenlesen, das uns
das wüthende Vieh nach allen Seiten zerstreut hat.
„Du sollst jetzt nichts tragen, Bruder -- bleib'
einstweilen hier, ich gehe nur schnell hinüber und ersuche Tantchen, mir zu helfen.“
Ohne eine etwaige Einwendung Hugo's abzuwarten,
enteilte Constanze über die Straße und trat in die Barracke,
Eben war die Irländerin in der Stube und bezahlte ihre
zwei Dollars für die gelieferte Arbeit. Dann bestellte sie noch
zwei andere Krägen gegen das Ende der nächsten Woche.
Die wollen ich und Constanze fertig machen, Tantchen“,
sagte Melanie, als dieselbe wieder zum Häckelzeug griff, um von Neuem zu
beginnen -- „ruh Dich aus oder flicke der kleinen Amelie ihr Hemdchen.“
„Erlaube mir Mutter, daß ich die Güte Tantchens auf
einige Augenblicke in Anspruch nehmen kann; ich kann das
viele Moos nicht so allein herüberschleppen und dem guten
Hugo schmerzt sein Arm so sehr,“ bat Constanze.
„Ich weiß nicht, ob es Tantchen thun will,“ erwiederte
Melanie, „ich kann nicht über sie verfügen.“
Tantchen Cölestine ließ sich 's nicht zum wiederholten
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Nachtwandelns an den Kopf Hugo's, der erschreckt aus dem
Schlafe auffuhr und ihr eine derbe Zurechtweisung gab. Hie
und da lief sie an's Fenster und trommelte an die Scheiben
und surrte ihre Melodie von der verführten, unglücklichen
Grafentochter. Dann fuhr sie zusammen, lief wieder auf ihr
Lager zu, legte ihren Kopf wieder auf den Reisesack und sprang
wieder auf, um in der Stube herumzutänzeln. So trieb sie
es die ganze liebe Nacht. --
Giebt es für ein Mädchen etwas Wichtigeres, als ein
gutes Bett? Welches Mädchen wird es Constanzen verargen,
daß alle ihre Gedanken und Wünsche auf ein besseres Nacht
lager gerichtet waren? An der mehr oder minder größeren
Sorgfalt, mit der sich ein Mädchen sein Bette zurechte macht,
kann man seinen Charakter erkennen. Ein Mädchen, das nie
von seinem Bette begeistert ist und sollte es auch in Seide und
Eiderdunen liegen, ist entweder nicht recht wohl oder es liest
langweilige Romane. Ein gutes, braves Mädchen kennt jeden
Nadelstich an seinem Bette, mag es nun ein Seitenstich, ein
Vorderstich, Hinterstich oder Steppstich sein. Ein gutes, braves
Mädchen hält auch etwas auf seine Musquitobare; es schiebt
fie so zurück, daß sie nicht baufähig aussieht, sondern gleiche,
schöne Falten wirft. Ein gutes, braves Mädchen in New-Orleans
wird nie in seinem Bette eine Musquito, die sich an ihm
vollgesogen hat, todt machen, weil dadurch das Bett beschmutzt
würde. Es wird die Musquito nur zu verscheuchen suchen,
und will dies nicht helfen, so läßt es dieselbe ruhig gewähren --
und das Alles, um das frische Bett nicht zu verunreinigen und
sollte es auch nur ein bescheidenes Moosbett sein.
Etwas ganz Anderes ist es aber mit einem Ehebette. Ein
Mädchenbett denkt sich : o wie lieb hat mich die Kleine! Ein
Ehebett denkt sich: Never mind, die werden es schon „fixen!“
Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, daß sich unsere
Epikuräer so wenig mit der Bettphilosophie befassen. Sogar
Daniel Webster, einer der größten und geistreichsten Epikuräer
unseres Jahrhunderts, hat es versäumt, ein Amendement für
ein zweckdienliches Bett-Compromiß im Senate auf den Tisch zu legen.“
Ein derartiges „Internal-Improvement“ hätte schon
längst die Aufmerksamkeit unserer Staatsmänner erregen sollen,
Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, „daß noch so Vieles faul
im Staate Dänemark ist.“
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New-Orleans ist es von einer weisen Vorsehung
vorbehalten, hierin die Initiative zu ergreifen. --
In Allem, was den Lebensgenuß erhöht und die finstersten Köpfe zu ercellenten
Epikuräern heranzieht, ist New-Orleans bisher in den Ver. Staaten die Vorläuferin gewesen. Aber nicht
nur hierin, sondern auch in dem,was so manche Erwerbsquellen anbelangt.
New-Orleans ist diejenige Stadt in den Ver. Staaten,
wo man nur höchst selten aus den Boardinghäusern hinausgeschmissen wird. Nirgends giebt es anständigere,
noblere und aufopferungsfähigere Boardingwirthe, als in New-Orleans.
Ein Boardingwirth in unserer Stadt wird eher Hab und
Gut aufopfern, als daß es ihm je einfiele, einen Boarder hinauszuwerfen,
wenn er nämlich nicht bezahlen will oder vielmehr
nicht kann; mag er nun politischer Flüchtling, Aristokratie-Auswurf,
literarischer Vagabond oder journalistischer Abenteurer
sein. Wenn es je ein jüngstes Gericht giebt, wie uns die
Mythologie erzählt, so wird der Herr im Thale Josaphat die
Boardingwirthe von New-Orleans sicher nicht auf die Seite
der Böcke stellen, sondern auf die andere.
Das ist nicht Alles.
New-Orleans ernährt seinen Mann. Wer in dieser Stadt
verhungert, ist entweder zu faul, seinen Mund aufzusperren
oder die Magenhäutchen sind im abnormen Zustande. Jeder
Boardingwirth läßt einen so traurigen Passagier, wenn er
auch kein regelmäßiger Boarder ist, an der Hochzeit zu Kanaan
Theil nehmen; und wenn derselbe nicht in Hochzeitsschuhen
erscheinen kann, so läuft er mit ihm zum Gevatter Schuhmacher und
leistet für ihn Security. Hat er keinen Rock zum
Anziehen, so geht er mit dem Unglücklichen auf Auction Sale;
dürstet ihn, so zieht ihn der barmherzige Samariter mit an
seine Bare, falls er eine solche in seinem Hause hat. Ist der
Zahlungsunfähige ein passionierter Raucher, so giebt er ihm
gewiß nicht die schlechteste Cigarre, sondern er empfiehlt ihm
Winkelried Schlüter in Common street und läßt ihm ausrichten:
„Eine schöne Empfehlung von Hrn.R.R. und er wünscht, daß
Sie mir ein Paar von ihren feinsten Regalias verabreichen.“
Ist das bankerotte Subject guten Wein gewöhnt, so schickt man
es zu John Fischer in Royalstreet und läßt es auf gut Glück
eine Flasche Rüdesheimer trinken. --
Ist aber Einer so eigensinnig und trotzig, mit den
Boardingwirthen nicht auf so vertrautem Fuße stehen zu wollen, so
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geht er zur Lunchzeit in irgendein „Dime-House“,- aber um
Eures Magen's willen bei Leibe nicht in ein „Picayunehouse“
-- nimmt mir nichts dir nichts ein tüchtiges Gabelfrühstück,
und zwar so tüchtig, daß er den Verlust der Diner Zeit leicht
verschmerzen kann. Ist dies geschehen, so geht er nicht an die
Bare, sondern streicht sich gefällig den Bauch, drückt dem
nächsten Besten die Hand und zieht vornehm ab.
Das ist nicht Alles.
Wenn New-Orleans einen Mann ernährt, so thut es dasselbe auch mit ganzen Familien.
Diejenigen, welche diesen Erwerbszweig repräsentieren,
zerfallen in vier Kathegorien:
1. Leveeratten. Diese Kathegorie schließt in sich jene
hoffnungsvolle Jugend beiderlei Geschlechtes, die es sich zur
Aufgabe gemacht hat, ganze Hocksheads Zucker und Molasses
anzubohren, deren Inhalt in beliebigen Quantitäten in einem
Körbchen oder Fläschchen zu kollektiren, und wenn sie es zu bunt
treiben, sich vor der Wharfpolizei in Acht zu nehmen.
2, Cotton-Retailisten. Diese Kathegorie ist die
gefährlichste, weil sie die Hauptquelle unserer Größe und Macht
versiegen zu machen bemüht ist und schon oft bedeutende Fallissements
unserer Cottonbrokers herbeigeführt hat. Sie manövrirt in der Nähe der
Cottonpressen, vorzüglich in Tchoupitulasstreet und Ecke von Claiborne und
Canalstreets. In Claibornestreet schützen sie die großen schattigen Bäume vor
den Luchsaugen der Nachtpolizei.
3. Ragpickers. Sie gehen in aller Unschuld in die
Häuser, um Lumpen zu suchen und etwas Anderes zu finden.
4. Coffeepickers. Dieses ist die beste Classe. Sie
wird von den verschämten Armen unserer Stadt vertreten.
Dies zur Orientierung des Nächstfolgenden. --
Einige Tage vor der Moosaffaire unter den Live Oaks
stand Gertrud vor der Thüre und hörte dem Geplauder mehrerer Kinder zu.
Sie erzählten sich gegenseitig ihre Eroberungen in Caffee,
den sie ihren Eltern nach Hause gebracht. Unter ihnen befand
sich auch ein kleines niedliches Mädchen mit fröhlich-blickenden
Kinderaugen, aber im ärmlichen Anzuge.
Gertrude, die sich zu diesem Mädchen hingezogen fühlte,
redete es an und erfuhr von der Kleinen, daß ihr Vater, ein Ohio Raftman, schon über drei
Monate todt sei, und ihre Mutter, die sich bisher durch Waschen das zum Lebensunterhalte
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deren kranke Mutter ein. Ein Entschluß war daher schnell
gefaßt, ohne das Wenn und Aber zu bedenken.
Gertrude war etwas über sieben Jahr alt und ein herzallerliebstes
Kind. Das Blau ihrer Vergißmeinnichtaugen
blickte so treuherzig in die Welt hinaus, sah Einem so friedlich
in's Gesicht, daß man in manchen Augenblicken leicht auf die
Idee kommen konnte, das liebe Täubchen mit Haut und Haar aufzufressen.
Ihr kleines Mündchen, das eine volle Reihe der glän
zendsten, elegantesten Perlen barg, hatte so volle und glänzende
Röthe, wie die halb aufgeblühte Blume des Liliput-Oleanders.
Ihr Hals, der so beweglich war, wieder einer Turteltaube
war von blendender Weiße und tadelloser Reinheit. Solche
Turteltauben-Hälse sind gewöhnlich denjenigen Mädchen eigen,
die frühzeitig heranreifen und von der Natur bestimmt sind,
als Mütter sich und den Mann glücklich zu machen.
Gertrude trug heute ein dunkellila Barègekleid mit weißen
schwarzgeränderten Blümchen, das zwar nicht mehr sehr neu
war, aber dennoch nett und reinlich kleidete. Ihr reiches,
blondes Haar war in zwei lange Louisenzöpfe geflochten, die
bis über ihre Taille herabhingen. Ihre Strümpfe waren
zwar weiß, aber an vielen Stellen übernäht und ausgebessert,
eine Verschönerung, die Gertrude dem im Ausflicken unermüdlichen Tantchen verdankte. Nur mit ihren Schuhen konnte
Tantchen Cölestine nicht fertig werden.
Zum sechsten Male schon stand heute Gertrude vor der
Thüre, um ihrer Freundin aufzupassen, wenn sie mit ihrem Körbchen am Arme vorbeikäme.
Endlich kam die Ersehnte.
Vertraulich hing sie sich in den Arm des Raftman Töchterchens und wanderte mit ihr fort.
„Wie weit haben wir wohl an den Ort, wo wir Caffee
bekommen können, Lorchen?“ frug Gertrude ihre Freundin, als sie bereits mehrere Squares die Magazinestraße entlang
gegangen waren.
„O, es ist gar noch sehr weit, Gertrude; ich glaube, es
ist am Besten, wir machen es so, wie es alle Kinder, die in
dieser Gegend herum wohnen, machen, wenn sie zum Caffeepicken gehen -- es muß bald ein Omnibus da herabkommen,
wir steigen dann hinten auf den Tritt, der kostet nichts, Gertrudchen.“
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„Da furcht' ich mich Lorchen, wie leicht könnten wir uns weh thun!“
„Ich thue es auch nicht gerne, wenn der Omnibus eben
im Fahren ist, deshalb passe ich immer den Augenblick ab, wo die Gentlemen und Ladies aus- und einsteigen.“
„Du bist gescheider wie ich, Lorchen, da hätte ich wirklich
nicht daran gedacht,“ entgegnete, ihre Freundin anblickend
Gertrude. „Aber wenn da gerade Niemand ein- oder aussteigt,
Lorchen, weißt Du dann auch, wie wir's anfangen sollen, hinten
aufzukommen? So im Fahren getraue ich mich nicht recht.“
„Siehst Du Gertrudchen, jetzt gehen wir noch bis an jene
Ecke, da stehen um diese Zeit immer Leute, welche einsteigen --
das hab' ich mir schon so ausgerechnet“ erwiederte beruhigend Lorchen.
„Wie klug Du bist, Lorchen,“ rief Gertrude erstaunt aus.
Lorchen kehrte sich schnell um, und als sie in der Ferne
einen Omnibus ansichtig wurde, faßte sie ihre Freundin am Arm und zog sie mit sich
fort bis an jene von derselben bezeichneten Stelle.
Wie Lorchen vorausgewußt, fanden schon mehrere
Personen hier bereit, um auf die Ankunft des Omnibus zu warten.
Als derselbe anhielt und Gertrude in ihrem Eifer gleich
auf denselben los ging, um ihren bescheidenen Platz einzunehmen,
hielt sie Lorchen zurück und bedeutete sie,daß sie warten müsse, bis alle Personen eingestiegen seien.
Als der Omnibus abfuhr, standen Gertrude und Lorchen
hinten am Tritte, und hielten sich gegenseitig mit einem Arme
fest, den andern hatten sie um die Rahmen der Thürfenster
geschlungen, um sich in Gleichgewicht erhalten zu können. --
Ehe wir die beiden Freundinnen an den Ort ihrer
Bestimmung ankommen lassen, müssen wir den geehrten Leserinnen denselben etwas näher beschreiben:
Mit ihrer Front an Commercestreet stehen zwischen Julia und Notre Dame Straßen
jene drei großen Warehäuser, die der Kaufmannschaft von New-Orleans unter den Namen:
„Pelikan“, „Star“ und „Eagle“ bekannt sind.
In ihnen sind die Reichthümer des Mr. Tourné aufgespeichert.
Die Warehäuser selbst sind nicht sein Eigenthum, sondern gehören dem reichen Samuel Cohn, von dem sie Ersterer für
seine ungeheuren Niederlagen gemiethet hat. Samuel Cohn
ist der Geschäftswelt unter dem Namen „Pariser Cohn“ bekannt und Einer der reichsten und angesehensten Männer
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unserer Stadt, Einer von den Wenigen, die ihren Reichthum ihrer unbestechbaren Redlichkeit,
verbunden mit einer unermüdlichen Consequenz und eisernen Ausdauer in Geschäftssachen,
zu verdanken haben. Man nennt ihn „Pariser Cohn“ zum Unterschiede von den vielen Cohn's in New-Orleans,
die fast sämmtlich der Kaufmannschaft angehören und mehr oder minder mit dem allmächtigen Mammon
vertraut sind. Sie bilden unter sich so ziemlich Eine Familie und datieren ihre
Geschäftsroutine und ihr Kaufherrenthum von der freien Stadt Hamburg. In dieser Stadt sind noch
gegenwärtig. Viele anfäßig und stehen hier wie dort in nicht geringem Ansehen.
Im „Pelikan“ und „Star“ findet man in der Regel nur
Gyps, Taue und Segeltuch, während das „Eagle Warehouse“
die Haupt-Niederlage für Caffee ist. Tausende von Säcken,
meistens „Rio- und Domingo-Caffee,“ füllen die ansehnlichen
Räume dieses Warehauses und bezeugen den immensen Verkehr unserer Stadt mit ausländischen Häfen.
Was früher Venedig in seiner Glanzperiode war, würde
schon längst New-Orleans geworden sein -- die Königin der
Meere, die Monopolistin des Welthandels. Der Kaufmann
von Venedig ist eben so gut hier zu Hause, wie er es einst in
der Lagunenstadt war. Auch an Sheylocks fehlt es nicht, nur mit
dem Unterschiede, daß die hiesigen Sheylocks keine Juden, son
dern orthodore Christen sind, die nicht nach Einem Pfund Menschenfleisch,
sondern nach ganzen Schiffsladungen dürften. Ja,
New-Orleans würde schon längst ein Venedig geworden sein,
wenn es nicht eine unsichtbare Hand in manchen Jahren für
ein Verbrechen strafte, das Gemeinheit und Eigennutz bisher
nur für ein nothwendiges Uebel gehalten haben.
Die Wage der Weltgeschichte oscillirt oft Jahrhunderte,
bis sie endlich eine Schale durch die Schwere ihrer Schulden danieder sinken läßt. --
Kehren wir jetzt wieder zu unseren Freundinnen zurück.
Gertrude, die mit ihrem Kopfe an der Oeffnung der
Schiebfenster lag, hatte die Aufmerksamkeit eines ältlichen
Mannes erregt, der in der hintersten Ecke des Omnibus sitzend,
sie zu wiederholten Malen mit der größten Theilnahme beobachtete.
Manchmal schien es sogar, als ob er irgend einen
raschen Entschluß gefaßt hätte. Seine unruhigen Bewegungen,
ein starrer Blick, der Eines von den beiden auf dem Tritte
stehenden Mädchen genau zu mustern schien, fesselte anderer
seits die Aufmerksamkeit eines jüngeren Mannes, der nun den
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Gertrude und Lorchen hatten während dessen schnell
einen andern Omnibus, der eben wieder vorbeigeeilt kam, bestiegen, und sahen
sich noch lange ängstlich nach den beiden Männern um, die in der nun entstandenen Aufregung ihre
Abwesenheit gar nicht zu bemerken schienen.
Noch ehe der Omnibus aus der Sehweite dieses Terrains
gefahren war, schien es der aufmerksamen Gertrude, als ob
Einer der beiden Herren von dem andern zu Boden geworfen
würde. Dann schien es ihr, als ob derselbe sich wieder erhöbe
und von Neuem einen Angriff versuchte. Endlich konnte sie Nichts mehr erblicken.
Die Fahrt ging ziemlich rasch.
Die Freundinnen wurden seit jener Stelle, wo die beiden
Herren sich so kampflustig geberdeten, nicht mehr incommodirt.
Seltsamer Weise stieg die ganze Route bis an Julia street niemand mehr ein.
„Wenn ich Dich bei Deinem Kleide zupfe, Trudchen,
springst Du schnell herab“, bemerkte Lorchen, „wir sind jetzt
bald an Juliastreet und da haben wir nur noch quer über eine
Straße zu gehen, dann sind wir an unserm ersehnten Ziele.“
„Aber Lorchen, das kann ich doch nicht?“
„Warum nicht, Trudchen? Herunterspringen ist viel
leichter und weniger gefährlich, als sich hinaufschwingen. Lass nur schnell ab, wenn ich Dich zupfe. -- --“
Jetzt lief der Omnibus an Juliastreet vorbei, Lorchen gab
ihrer Freundin das verabredete Zeichen, rief: „komm Trudchen,
komm, jetzt -- “und sprang vom Schlage herab. Gertrude folgte
aber ihrer couragierten Freundin nicht nur nicht
nach, sondern klammerte sich noch fester an die Fensterrahmen.
Als Lorchen dies gewahr wurde, schrie sie aus vollem
Halle dem Treiber zu, er möchte doch anhalten.
Der Omnibustreiber, der der Meinung war, es wollte Jemand einsteigen, hielt inne.
Gertrude sprang herab und lief ihrem besorgten Lorchen
entgegen, die, außer sich vor Freude, dem erschrockenen Trudchen um den Hals fiel und sie zärtlich küßte.
Der Omnibustreiber, der nicht recht wußte, was er von
diesem Schauspiele denken sollte, fluchte im Wegfahren noch
ein paar „damn’d dutch Girls“ zurück. --
Es giebt wohl keine Straße in ganz New-Orleans, wo
man so leicht in Gefahr geräth, überfahren zu werden, als
Tchoupitoulasstreet. Es gehört das Genie eines vollendeten
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Turners dazu, hier durchzukommen, ohne von den Pferden und
Mauleseln zertreten und von der Unmasse von Dray's gerädert
zu werden. Kniewellen, Bauchwellen, Rückenwellen, der große
und kleine Riesenschwung -- kurz alle Uebungen am Reck und
Barren müssen bis zur Meisterschaft einer ereirt sein. Erst
wenn dies der Fall ist, kann man es wagen, zwischen acht Uhr
Vormittags und vier Uhr Nachmittags über diese Straße zu gehen.
Gertrude und Lorchen mußten wenigstens eine Viertel
stunde warten, bis es ihnen endlich gelang, auf das entgegengesetzte Banquet zu gelangen.
Als sie in Commercestreet einlenkten, sahen sie die ganze
Schaar von Caffeepickers vor dem Eagle Warehause in rast
loser Thätigkeit. Mädchen und Knaben, Männer und Frauen,
junge und alte Weiber -- alles bunt durch einander, wie auf einer Leipziger Buchhändlermesse.
Lorchen bemerkte unter diesem Trupp viele, die erst Neulinge
in diesem Geschäfte waren; dieselben wurden von den
Stammgästen des Eagle Warehauses auf eine gottlose Weise
maltraitiert, weggestoßen und umgerannt, und wenn Einige
von ihnen schon glaubten, mit einer reichen Beute den Nachhausemarsch
antreten zu können, so wurde ihnen das so mühsam
Erworbene von den unbarmherzigen Stammgästen wiederge, raubt und abgejagt.
Wagten sie es dann, zu wiederholten Malen eine Lese zu
beginnen, so war des Neckens und Gespöttes kein Ende. Besonders that sich ein kleiner,
rothköpfiger irischer Junge hervor,
der einem alten Weibe eine ganze Schürze voll Bohnen weg
gemaust und in seinen grauen Hut geschüttet hatte. Die Alte
war ihm eine ziemliche Strecke weit nachgelaufen, bis ihr der
kleine Patrick die leere Schürze zurückwarf und sie fortwährend
umkreiste und neckte. Das alte Weib kehrte wieder auf den
Schauplatz ihres Wirkens zurück und begann von Neuem, die
Bohnen aufzupicken. Der kleine Patrick setzte sich dem „Eagle“
gegenüber auf ein leeres Limebärrel, hielt seinen Hut voll Bohnen in die Höhe und sang unaufhörlich:
„Little Patrick Horner
Sat in the corner,
Eating a Chritsmas' pie:
He stuck in his thumb,
And pulled out a crumb,
Crying, „What a nice boy am I!“
Hie und da eilte er über die Straße unter die Coffeepickers
und kneipte die unermüdliche Alte in das steife Genick oder
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schlug ihr die Bohnen aus der Schürze. Dieselbe wurde endlich so erbost,
daß sie einen Stein aufhob und ihn deu kleinen
Patrick fast an den Kopf geworfen hätte. Derselbe machte sich
endlich aus dem Staube und sang abwechselnd :
„I come from Alabama from
With the shovel and the hoe etc
„Little Patrick Horner
Sat in the corner etc.
Als Lorchen mit Gertruden Hand in Hand unter die Caffeepickers trat,
machten ihr einige Mädchen auf eine überraschende Weise die Honneurs. Sie streckten derselben ihre Händchen
entgegen und wichen von dem Platze, wo die größte Ernte zu
hoffen war, bescheiden zurück. Gertrude, der dieses Benehmen
der kleinen Coffeepickers gegen ihr Lorchen, sonderbar genug
vorkommen mußte, war noch mehr in Erstaunen gesetzt, als
man ihr freiwillig mehrere Baskets voll der schönsten Bohnen
anbot. Auf die Einwendung Gertrudens, daß ihr zu viel
gegeben werde, da sie nicht im Stande sei, dies Alles zu tragen,
erbaten sich zwei Jungen und ein schon aufgeschossenes Mädchen, ihr hierin behülflich zu sein. Sogar jenes alte Weib,
das während ihrer Ernte so oft von dem muthwilligen Patrick
unterbrochen worden war, demnach mit ihren Schätzen gegen
die andern noch sehr im Rückstande blieb, ließ mehrere Hand
voll Bohnen in Gertrudens Basket fallen. Auf solche Gaben
nickte Lorchen immer freundlich zu und man sah es an ihrem
freudestrahlenden Gesichtchen, daß es ihr nicht gleichgültig war,
wenn man ihrer Freundin auf eine so zuvorkommende Weise begegnete.
Der ganze Trupp der Coffeepickers bewegte sich jetzt mit
Einemmale nach dem vorletzten Thore des Eagle Warehauses,
demjenigen Theil des Gebäudes, der gegen Notre Dame zu sich
hinerstreckt. Den aufmerksamen Coffeepickers war es nemlich
nicht entgangen, daß man unter die Wölbung Eines der vielen
Thore die große Wage gerollt hatte. Als Sachkundige wußten
diese kleinen Freibeuter sehr gut, daß man nun die Säcke,
deren Naht nicht mehr solid genug war, ausschüttete, den so
ausgeschütteten Caffee in einen neuen Sack schaufelte und den
selben dann auf die Wage brachte und wog. Bei dieser Gelegenheit
ist immer eine große Ausbeute zu hoffen, und wenn
man mit dem Einschaufeln zu genau verfahren sollte, so werden
doch stets mit den Füßen von den großen Haufen so viel Bohnen
abgestoßen, daß man zwanzig Hände haben könnte um all die springenden
und hüpfenden Dinger aufzufangen. --
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Lorchen, welche gleich anfangs bemerkt hatte, daß es sich
hier beim Aufpicken nicht um die graugrünen Bohnen des Rio
handle, sondern daß hier Java ein Füllhorn ausschütte, war
wie der Wind hinter die gelbbraunen Dinger her, die bald auf
ihrem Kopfe tanzten, bald von da abprallten und in die Gosse oder hinüber sprangen. --
Die Java und Domingosäcke wurden gewöhnlich nur in
den obern Räumen des Warehauses geöffnet. Geschah es einmal, daß
sich ein solcher Aristokrat unter den Caffeesäcken nach
unten verirrte, so war dies für die Coffeepickers ein epoche machendes Ereigniß. --
Man darf aber hier durchaus nicht glauben, daß es Poesie
war, was diese Kleinen, Männer und Frauen, Alt und Jung,
nach den schönen Javabohnen so eilig fingern ließ, sondern
einzig und allein die glänzende Voraussicht, ein Paar Dollars zu verdienen.
Zum näheren Verständniß sei hier bemerkt, daß viele Grocerien dritten Ranges
in New-Orleans von diesen Coffeepickers ihre Colonialwaaren beziehen und diesen Transithandel so viel als möglich begünstigen.--
Die Coffeepickers von solcher zweideutigen Qualification
sind gefährlicher, als die Süßwasserpiraten der Bayou Barataria und Bayou Lafourche. Während die Letzteren von einer
gut disciplinierten Schiffswacht leicht in gehöriger Entfernung gehalten werden können, gehört es fast in's Bereich einer
totalen Unmöglichkeit, den Ersteren so an der Ferse zu hängen, daß sie der Beleibtheit eines Domingo- oder Javasackes nicht
zu nahe treten. Mit Rio geben sie sich nicht ab; denn mit dieser Sorte ist wenig zu verdienen. Wer ist auch im Stande,
diese Coffeepickers zu überwachen oder ausfindig zu machen? Welcher Wachtmann ließe es sich gefallen, wenn man ihm zu
muthete, hinter jeden Sack zu sehen, ob nicht etwa ein Coffeepicker daselbst Anker geworfen. Zudem hat diese gefährliche
Sorte von Pickers so scharfe Schneidezähne, daß binnen einigen
Wochen über die Hälfte der Tag- und Nachtwache des betreffenden Quartiers ohne Hände patrouillieren müßte. Diese
Tausende von Säcken, die dicht gedrängt von den Dielen auf wärts bis zu den Dachsparren aufgeschichtet sind, gehörig zu
überwachen! Im Pelikan Warehouse hat man es noch vor drei Jahren versucht, Fallen zu legen, aber seitdem daselbst ein
Neger des Herrn Tourné unvorsichtigerweise hineingerathen ist, und man mit ihm -- da dem Neger in Folge dieses
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Mißverständnisses ein Bein abgenommen werden mußte -- über
zweitausend Dollars einbüßte, unterließ man es fernerhin,
einer solchen verhängnißvollen Maschine seine Aufmerksamkeit zu
widmen. Die Warehouse-Piraten trieben es zwar nach jenem
Unfalle wieder bunter, als ehevor, aber, wenn man den
Schaden, der daraus entstand, berechnete, so machte er noch
lange nicht die Summe aus, die man durch die Amputation des Negerbeines verlor.
In neuerer Zeit sind die Piraten aus dem „Pelikan“ gänzlich verschwunden,
da sie den nunmehr dort aufgelegten Limebärrels keinen rechten Gout abgewinnen können. Dafür ist
das Eagle Warehouse das Terrain ihres Enterns und Kaperns geworden. --
Gertrude und Lorchen hatten ihre Ernte glücklich zu Ende gebracht.
Jetzt erst fiel es. Ersterer ein, daß sie sich, ohne es ihren
Eltern zuerst wissen zu lassen, von Hause entfernt hatte.
„Was werden meine Eltern und Geschwister denken,
Lorchen, wenn sie mich nirgends finden können?“ sprach Gertrude ängstlich ihr Bedenken gegen ihre Freundin aus.
„Es ist noch nicht so lange her, Trudchen, daß wir uns
entfernt haben -- Deine Eltern haben es vielleicht gar nicht
bemerkt -- und haben sie es auch, so werden sie Dir, wenn sie
den schönen Caffee sehen, auch nicht böse sein. Ich habe auch
einmal so gedacht, wie Du -- mein Vater lebte damals noch --
Lindsey's Kinder lockten mich mit sich weg in die Stadt, Vater
und Mutter durchsuchten das ganze Haus von Oben bis Unten,
forschten bei der Nachbarschaft nach, allenhalben schickten sie
hin oder gingen selbst, um mich auszuspähen -- doch sie
konnten mich natürlich nirgends finden --- O, und wie pochte
mir das Herz, als ich auf dem Nachhauseweg begriffen war --
wie fürchtete ich mich auf einmal -- denn mein Vater, Trud
chen, war manchmal sehr streng -- schon, als mich meine Eltern
von Weitem erblickten, liefen sie mir entgegen, die Mutter mit
freudigem Gesicht, der Vater ernst und scheltend -- -- da zeigte
ich Ihnen meinen Caffee und sie vergaben. Alles auf einmal
-- siehst Du, Trudchen, anders wird es Dir wohl auch nicht
ergehn, glaubst Du? --“
Gertrude konnten diese Worte nicht beruhigen. Zudem
kam es ihr vor, als schämte sie sich ein wenig, die elende Lage
ihrer Familie durch ihren Besuch bei den Coffeepickers so öffentlich prostituiert zu haben.
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Lorchen, welcher die plötzliche Niedergeschlagenheit ihrer
Freundin nicht entgangen war, dachte natürlicherweise nicht
im Entferntesten an ihre eigentliche Ursache. Sie glaubte,
Gertrude mache deshalb ein so betrübtes Gesicht, weil sie sich
auf die Vorwürfe, die ihrer zu Hause warteten, fürchte.
An Tchoupitoulasstreet angekommen, mußten sie abermals
mehrere Minuten verziehen; denn die hin- und zurück fahrenden Dray's versperrten die ganze Straße.
Gertrude wurde immer unruhiger und ermunterte Lorchen,
wenn sich nur irgendwo eine passende Gelegenheit fände, über die Straße zu eilen.
Endlich schien der rechte Augenblick gekommen zu sein.
Zwischen den sich nachdrängenden Drays bildete sich ein
Zwischenraum, der freilich, um hinüber zu gelangen, im Ru
benutzt werden mußte. Sonst gerieth man unvermeidlich unter die Räder oder die Beine der Pferde.
Wie der Blitz huschte Lorchen durch und bückte sich gerade
noch zur rechten Zeit unter den Kopf eines Pferdes, sonst wäre
es von demselben zu Boden geworfen worden.
Gertrude, die dicht hinter Lorchen war, kam zu spät --
Ein entsetzlicher Schrei! Schon berührte sie das Rad eines
mit Baumwolle beladenen Karrens -- da fühlte sie sich von
einem kräftigen Arme umschlungen, der sie geübt und sicher aus
dem entsetzlichen Wirrwar auf das sichere Trottoir brachte.
Ueber ihr Körbchen rasselten Räder und traten Hufe -- in
wenigen Augenblicken war auch nichts mehr zu sehen, außer
einigen Flechten und zerstreut liegenden Bohnen.
Gertrude, deren Schläfe in fieberhafter Aufregung pochten,
hatte der Schrecken, in die sie dieser Vorfall versetzt, so außer
Fassung gebracht, daß sie noch nicht einmal ihrem Retter in's
Gesicht gesehen hatte. Jetzt, als sie ihre Augen zu ihm aufschlug
und die einigen den ihrigen begegneten, fiel sie ihm für
mich um den Hals und unter Lachen und Weinen schluchzte
sie: „Gott sei Dank! Sie hier, Prinz?“
„Comtesse Gertrud,“ rief ihr Lebensretter freudig aus, in
einem Tone, der deutlich sagte : also sind Sie es doch gewesen -- ich habe mich also nicht geirrt.
„Prinz, Sie hier “ wiederholte Gertrud, „O welches Glück, Prinz! --“
„Kommen Sie, Comtesse, lassen Sie uns am St. Charles
Hotel ein Cab besteigen -- wo sich Etwas außerordentliches ereignet,
sammelt sich gleich ein Haufe Neugieriger“, flüsterte der
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Prinz von Würtemberg Gertruden in's Ohr, indem er sie mit
einem Blicke auf die Umstehenden aufmerksam machte. --
Auf ihrem Wege nach St. Charles Hotel sprach der
Prinz, der Gertrude an der Hand führte, kein Wort. Auch
Gertrude schwieg. Der Prinz, in der peinlichsten Verlegenheit,
auf welche Weise er sich die räthselhafte Situation Gertrudens
erklären sollte -- Gertrud, mit niedergeschlagenen Augen und
großer Aengstlichkeit eine gewisse Frage von Seiten ihres Lebensretters
erwartend -- so gelangten sie an den Ort, wo man ein Cab besteigen sollte.
Der Prinz brach zuerst ein Schweigen, indem er Gertrud frug:
„Comtesse Gertrude, darf ich Sie wohl nach Hause begleiten?“
„Wir wohnen Washington Avenue, Prinz, gegenüber dem
Live Oak Square,“ wich Gertrud geschickt dieser bedenklichen
Galanterie aus, eine Antwort, die den Prinzen selbst aus einer großen Verlegenheit riß.--
„Nach Washington Avenue“ rief der Prinz dem Cabtreiber
zu: „gegenüber dem Live Oak Square haltet an!“
Als sie ungefähr fünf Squares weit gefahren waren, sah
Gertrud Lorchen, mit ihrem Körbchen am Arme weinend und unruhig hin und her laufen.
„Lorchen“, schrie Gertrude aus dem Wagen, ohne daß
sie es eigentlich wollte und nur dem Drange ihres Herzens nachgebend.
Lorchen, die die wohlbekannte Stimme ihrer Freundin
vernommen hatte, sah sich erstaunt nach allen Seiten um, doch
da die Gertrud unmöglich in einem Cab vermuthen konnte, so
suchte sie unter den Fußgängern, allenthalben herumblickend.
„Wem riefen Sie, Comtesse?“ frug der Prinz von Würtemberg eine
kleine Dame - dann fügte er hinzu: „Vergeben Sie mir, daß ich Sie jetzt erst frage.“
„Es war Lorchen, des Raftman’s Töchterchen, Prinz --" antwortete Gertrude.
„Wie man doch einem Kind gegenüber die Geistesgegenwart
verlieren kann!“ dachte sich der Prinz, als ihm die rasche
-- Antwort Gertrudens das sagte, was er sich jetzt noch nicht zu fragen getraute. --
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[LSZ - 1854.03.13]
Viertes Capitel.
Der Prinz von Wuertemberg.
Vielen mag das geübte Rencontre von Seiten Gertrudens
auffallend erschienen sein. Gertrude, an einem fürstlichen Hofe
erzogen, geliebkost und gehätschelt von den schönen Töchtern des
Hauses Wittelsbach, und obwohl noch Kind, angebetet selbst von
der männlichen Hof-Camarilla, hatte bei dem so unerwarteten
Zusammentreffen mit dem Prinzen plötzlich wieder die frühere
Tournüre erhalten und schien nur wieder. „Kind“ in dem
Augenblicke, als sie ihrer Freundin Lorchen vom Wagen aus
zurief. Durch die traurigen Mißverhältnisse, die ihre Familie
betrafen, in Sitte und Herzenspoint verkümmert oder vielmehr
zum Naturkind geworden, hatten ihr die edlen Gesichtszüge
des Prinzen jene erwärmenden Strahlen in Geist und Herz
gesandt, die das Kind schon zur Dame machen und einen Reiz
hervorzaubern, den nur wahrhaft geistig durchbildete Menschen
zu genießen im Stande sind. Dieses Melée von Kindlichkeit
und flügger Reife machte Gertrude zum lieblichsten Geschöpfe
der Welt. Ihre Eltern beurtheilten sie ziemlich richtig, als sie
sich leise zuflüsterten: Unsere Gertrud ist doch ein gescheidtes Kind!“
Gertrude hatte sich kaum eine halbe Stunde von ihren
Eltern entfernt, als dieselben ihre Abwesenheit bemerkten.
Da sie sich früher nie, ohne Erlaubuiß einzuholen, auch
nur wenige Augenblicke wegbegeben hatte, so war man um so
mehr beunruhigt und in eine Beängstigung versetzt, die nur
mit dem Wiederfinden des geliebten Kindes verschwinden sollte.
Constanze und Hugo waren der Meinung, Gertrude sei
unter die Live Oaks geeilt, um hier im Schatten dieser Riesen
ihrer durch sie angeregten Wißbegierde Genüge zu leisten.
Daß diese Vermuthung unbegründet war, wissen wir bereits.
Als sich nun Melanie mit Amelie an der Hand selbst auf
den Weg machte, um ihr Töchterchen aufzusuchen, schüttelte
Tantchen Cölestine ihren Kopf und eröffnete zum wiederholten
Male den Cyclus ihrer korybantischen Grimassen und Wahnworte.
„Habe ich es nicht immer vorausgesagt, daß ein großes
Unglück passiert -- -- -- aber man will Tantchen Cölestine
nicht glauben -- man verachtet sie -- -- ja, ja, fahrt nur so
fort, Ihr werdet es sicher bereuen, nach Amerika gekommen zu
sein -- -- was habt Ihr denn schon wieder.-- -- Laß ab von
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mir, ich hab' Dir ja nichts zu Leide gethan -- hab' ich es
nicht immer vorausgesagt, daß sich bald ein großes Unglück ereignet? --“
So und in ähnlicher Weise ging es wieder lange fort.
Hugo, dem beiderlei Auftritten stets all“ eine böse Laune wiederkehrte,
ergriff Tantchen Cölestine beim Arme und nöthigte
sie mit Gewalt zum Niedersetzen auf ihren Reisesack.
„Dummes, altes Ding Du,“ raisonnierte er: „es ist auch
gar nicht mehr zu ertragen -- solchen Unsinn zu schwätzen, da
man sich ohnehin nicht in der besten Lage befindet und außerdem
genug zu thun hat, die widrigen Mißverhältnisse und Zufälle
zu bekämpfen und zu lindern -- da noch solchen Unsinn und so
unheimliches Gerede mit anhören zu müssen -- man könnte
wahrhaftig Lust verspüren, ein kaltes Bad zu nehmen oder sich
eine Pistole vor die Stirne zu drücken --“
„Lass' mich das nicht wieder hören, Hugo,“ warf der
Vater ernst ein, „es zeigt von einem bedenklichen Leichtsinne,
seinem Unmuthe auf solche Weise Luft zu machen -- eine solche
Sprache ist die unwürdigte, die ein junger Mann von Deinem
Alter nur immer führen kann. Einen Wunsch auszusprechen,
den man doch nie im Sinne hat auszuführen, sondern damit
nur die Gemüthsruhe und Seelenstimmung seiner Angehörigen
martert und verletzt, läßt mich kein gutes Urtheil über Dein
Herz fällen, mein Sohn. --“
„Es war auch nicht so gemeint, Vater,“ begegnete Hugo.
„So sprechen. Alle, Hugo, die keine Anerkennung ihrer
widersinnigen Reden finden. Ich hoffe zu Gott, daß sich Dein
unnatürliches Mißbehagen wieder verlieren wird, wenn Dein Arm geheilt ist.--“
Melanie trat mit Amelie in die Stube. Sie hatte
vergebens gesucht. Eine unendliche Besorgniß und Aengstlichkeit malte sich auf ihrem echauffierten Antlitze.
„Ich habe die ganze Nachbarschaft abgelaufen und konnte
das böse Kind nirgends finden“, begann die gute Mutter fast
athemlos. Die kranke Frau des verstorbenen Raftman's
meint, es wäre wohl möglich, daß Gertrude mit ihrem Lorchen
in die Stadt gegangen sei, da sie schon zu öfteren Malen davon
gesprochen hätte, sie mitzunehmen. Ebenso glauben Lindsey's,
bei denen ich ebenfalls gewesen bin -- wäre dies nur der
Fall, ich würde ganz zufrieden sein -- aber, wenn ihr irgend
ein Unglück begegnet wäre -- -- -- das gute, böse Kind, wie
es sich nur so ohne Erlaubniß entfernen kann. --“
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„Beruhige Dich, Melanie“, tröstete ihr Gatte, „Gertrude
wird wohl mit dem kleinen Lorchen einen Spaziergang gemacht
haben und bald wieder unter uns erscheinen -- aber einen
kleinen Verweis kannst Du ihr geben, wenn sie kommt, damit
sie sich's für die Zukunft merkt und uns nicht wieder in solche Unruhe versetzt --“
Hugo, der mit seiner Schwester an dem offenen Fenster
stand, das auf die Washington Avenue hinausging, ließ seinen
Blick unwillkührlich nach jener Seite hin schweifen, wo er glaubte, daß Gertrude kommen müßte.
Eben lenkte ein Cab, das im raschen Trabe die Magazinestreet
heraufgekommen war, um die Ecke in Washington Avenue
und rollte dann langsam über die hier gelegten Planken. --
„Da kommt Gertrude“, bemerkte Hugo im Spaße und
stieß seine Schwester zugleich leise mit dem Arme an.
„Wenn wir einen Wagen hätten, glaubte ich's fast selbst“,
entgegnete Constanze und sah, ohne im Geringsten. Etwas dabei
zu denken, nach dem Cab, das jetzt einige Schritte vor ihrer Barracke stille stand.-- -- --
„Mutter, Vater -- der Prinz mit Gertruden --“ riefen
plötzlich zu gleicher Zeit Hligo und Constanze, indem sie vom
offenen Fenster zurücktraten und auf ihre Eltern zugingen.
„Der Prinz mit Gertruden?“ frugen diese erstaunt, indem
sie sich erhoben und mit an's Fenster eilten.
Wessen Feder wäre wohl im Stande, das Erstaunen zuschildern,
in das Melanie und ihr Gatte versetzt wurden, als
sie den Prinzen von Würtemberg vor dem Wagen schlage stehen
sahen, wie er sich eben anschickte, Gertruden die Hand zu bieten,
um ihr herauszuhelfen! Sprachlos sahen sie sich einander an
und standen noch am offenen Fenster, als der Prinz mit Gertruden
bereits nahe genug war, um ihnen die Hand zu reichen.
„Königl. Hoheit! Sie erweisen uns die Ehre --“
„Königl. Hoheit? Pah, pah -- noch immer diese gehalt
losen Titulaturen --“ warf der Prinz halb ärgerlich, im gutmüthigen Tone hin --
„wann werden Sie mich einmal kurzweg Bürger Paul nennen, meine gnädige Frau Gräfin?“
„Bürger Paul“, rief lebhaft Melanie aus, „nun ist es an
mir, Sie wegen der „gnädigen Frau Gräfin“ zur Rede zustellen.“
„Mit Nichten, meine Gnädige“, fiel der Prinz gewandt
ein, „bei Damen hat es mit den Titulaturen eine ganz andere
Bewandtniß -- ein Weib kann stolz auf seine persönliche Würde
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überleben - nie ganz verwischen wird. Auf seiner schönen Stirne trotzte beständig die
Parole: „Hie Welf, hie Waiblingen“ und kam er auf den verzweifelten Haushalt der deutschen
Höfe zu sprechen, so leuchtete ein eigenthümliches Feuer aus seinen Augen, das sich
phosphorisch seinen Zuhörern mittheilte. War sein Geist nicht durch irgend einen bedeutenden Gegenstand
gefesselt, so hatte sein Gesicht einen weniger angenehmen Ausdruck, vorzüglich legte sich dann über
seine Augen jener mysteriöse Schleier, den Amor noch hin und wieder lüftete und seinem Günstling
zuflüsterte: „Du hast geliebt und bist geliebt worden!“ Da im Leben der Prinzen die Liebe, als
Hauptagens aller ihrer Bestrebungen und Handlungen, eine große Rolle spielt, so konnten wir über
diesen Punkt nicht stillschweigend hinwegeilen. Die Liebe entfernte den Prinzen aus
einem angestammten Sitze und ließ ihn auf republikanischem
Boden eine reinere und frischere Luft trinken; die Liebe führte
ihn in die Schluchten Meriko's und ließ ihn den Ori Saba
besteigen; die Liebe geleitete ihn an den Humboldt River und
ließ ihn die Felsengebirge schauen; die Liebe war sein Ruder
im leichten Indianer Canoe; die Liebe stopfte ihm die Friedens
pfeife bei der Blackfeet- und Flathead Nation; die Liebe brachte
ihn in den Wigwam eines Siourhäuptlings, dessen schöne Tochter ihm ein Halsband von Alligatorzähnen
verehrte. Die Liebe ließ ihn am Vorgebirge der guten Hoffnung Anker werfen;
die Liebe brachte ihn in die Saalah's der Königin von Madagaskar, und
die Liebe führte ihn fast jedes Jahr wieder zurück nach New-Orleans.
Nur wo im viel bewegten Leben eines Mannes die Liebe
eine so große Rolle gespielt hat, kann man ihm mit Zuversicht
zurufen: „Auch Du bist Einer jener Glücklichen, die nicht um sonst gelebt haben.“
Die geehrten Leserinnen wissen bereits aus einem früheren
Capitel, daß der Prinz von Würtemberg ein passionierter Entomolog war,
und daß die beiden Schwestern in Algiers stets seiner gedachten, wenn ihnen ein
schöner Schmetterling oder seltener Käfer in die Hände kam.
Seine ausgedehnte Sammlung, besonders aus dem Reiche
der Infecten, überbietet wohl Alles, was noch je von Naturforschern geleistet wurde.
Coleoptera, Orthoptera, Hemiptera,
Neuroptera, Hymenoptera, Lepidoptera, Diptera -- kurz alle
bekannten Ordnungen finden sich in seiner Insektensammlung
auf's genaueste repräsentiert. Chelonier, Saurier, Ophidier
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und Batrachier sind entweder in Spiritusgläsern aufbewahrt,
oder wenn dies ihr Umfang nicht erlaubt, so hat sie die geübte
Hand des Taxidermisten gewissenhaft ausgestopft oder sonst
für das Auge angenehm und befriedigend präparirt.
Aus fremden Meeren hatte er dießmal eine beneidens
werthe Auswahl von Cephalopoden und Pteropoden mitgebracht, so wie er dem
regen Sammler Eifer seines Landsmannes, Professor Finke, mehrere seltene
Gasteropoden und Anneliden verdankte.
Ebenso erhielt er aus den reizenden Händen der engels
schönen Tochter der Mistreß Evans an seinem Geburtstage
die kostbaren Schmetterlinge „Paris“ und „Priamus.“ --
Als der Prinz mit Gertruden in die mehr als bescheidene
Stube getreten war, hatte er mit Einem Blicke die unglückselige
Lage, in der sich gegenwärtig die ihm schon von früher her so
liebgewordene Familie befand, durchschaut, und ein zarter
Sinn und edles Wohlwollen bestimmten im Momente schon
zum Voraus eine Ausgleichung dieser betrübenden Familien verhältnisse.
Seit seiner letzten Abwesenheit von New-Orleans hatte
er die Familie im sehr wohlhabendem Zustande verlassen
und die Versicherung mit auf den Weg bekommen, daß man
seine in Amerika gemachten Erfahrungen genau benützen und
seinen wohlgemeinten Rathschlägen gewissenhaft nachkommen wolle.
Als der Prinz nach Verlauf eines halben Jahres wieder
hieher zurückkehrte, so konnte er es nicht unterlassen, sogleich
jene gräfliche Familie aufzusuchen, um sich zu überzeugen, wie
es ihr gelungen sei, die neuen Verhältnisse zur Begründung
ihrer Glückseligkeit und Wohlhabenheit zu benützen und anzuwenden.
Da es nicht unwahrscheinlich war, daß sie noch das nem,
liche Haus bewohnten, das damals von dem Grafen auf eine
gewisse Zeit gemiethet war, so eilte er sogleich dorthin; mußte
aber zu einem nicht geringen Erstaunen hören, daß die gräfliche
Familie bereits seit mehreren Wochen das Haus geräumt
und, wie man vor ihm noch ferner laut werden ließ, gewisser Umstände
halber wahrscheinlich auch New-Orleans verlassen habe.
Die eifrigsten Nachforschungen in der Nachbarschaft und bei Personen,
denen die Familie bekannt war, blieben fruchtlos und ersah sich genöthigt,
dem Zufalle zu überlassen, was ihm durch emsiges Nachfragen bisher nicht gelungen war.
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Der Zufall hatte diesmal für den Prinzen einen Treffer gezogen. --
Jener ältliche Mann, der heute im Omnibus saß und die
außen auf dem Tritte stehende Gertrude nicht aus den Augen
ließ, war niemand Anderes als der Prinz Paul.
Wenn er so hinsah und sich das blonde Köpfchen betrachtete,
ließ es ihm manchmal keinen Zweifel mehr übrig, daß das
die junge Gräfin Gertrude sein müsse. Wenn er aber dann
wieder auf ihre Begleiterin hinsah, die, ebenfalls mit einem
Körbchen am Arme, von hinten den Körper Gertrud's deckte,
so glaubte er sich wieder in einer argen Täuschung befangen.
Wiederholt seine Musterung vornehmend, schien er endlich
überzeugt, daß er sich nicht geirrt habe. Es mußte Gertrude,
die Tochter des Grafen sein -- dieser bewegliche Taubenhals,
dieses schöne blonde Haar, in zweilang herabhängenden Louisen
zöpfen geflochten, die trotz ihrer ärmlichen Kleidung fesselnde
Haltung ihres Körpers -- es mußten sich bedeutende Uebelstände
in der Familie zugetragen haben -- aber in so kurzer
Zeit? -- und doch -- es kann nicht anders sein -- dieses
schöne Kind ist und bleibt einmal Gräfin Gertrude!
So dachte der Prinz lange hin und her, bis er endlich
mitjenem Manne, der von Gertrudens Anmuth und reizenden
Gesichtszügen ganz eingenommen schien, in jenen merkwürdigen
Conflikt gerieth, bei defem Beginne es Gertruden bereits gelang,
auf einem andern Omnibus zu entkommen.
Was weiters geschah,wissen wir bereits
Wer der junge, oder vielmehr jüngere Mann war, werden
wir in kurzer Zeit selbst aus dem Munde des Prinzen erfahren,
Als derselbe mit Gertruden zu ihren Eltern fuhr, war es
ihm in der unmittelbaren Nähe dieses schönen Kindes nicht
anders zu Muthe, als sei es seine Tochter.
Wenn sich Beider Blicke zufällig begegneten, so fand man
sogar in der Art und Weise, wie dies geschah, eine gewisse
Aehnlichkeit zwischen ihnen, eine Bemerkung, die sich übrigens
Niemand auszusprechen getraute, der das liebevolle und treue
Hingeben. Melaniens an ihren Gatten kannte. --
Unverschuldetes Elend, bedeutende materielle Verkommenheiten sowohl
im Privat -- als Familienleben, machen uns nur in Gegenwart solcher Personen bestürzt, die
uns früher in Glanz und Ehren gesehen und beneidet, und deshalb unter
das jetzt gedruckte Dach kommen, um sich entweder an unserem
Unglücke zu weiden oder den Contrast zwischen ihrem Glück
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Prinz!“ bemerkte der Graf und blickte dabei mit der liebenswürdigsten Miene von der Welt Melanien an.
„Mister Clifford“, sagte dieselbe mit halb lächelnder, halb
ernster Miene zu ihrem Gatten: „Wenn Sie glauben, daß
nur im Entferntesten die Idee in mir aufgetaucht ist, mich an
Bürger Paul zu rächen, so bin ich bereit, sowohl von seiner als
von Ihrer Seite jedwede Revanche mit dem größten Danke entgegenzunehmen. --“
„Nun höre meine Melanie, das Mister Clifford müßte
ich mir verbieten -- Mister Ernst ginge noch an, wenn Dir
vor meinem und Deinem aristokratischen Namen graut --“ bemerkte der Graf mit halb verschleierter Ironie.
„Allerliebst, unübertrefflich!“ schallt der Prinz ein; dann
wandt“ er sich an Hugo, der neben Constanze auf einer Matratze saß und aus
einer aufgegangenen Naht das frische Moos herauszupfte: --
„Die New-Orleaner Luft scheint Ihnen gut zu bekommen,
Hugo, Sie sehen kräftiger und gesünder aus, als damals, wo ich Sie das Letzte mal gesehen habe
-- aber sie tragen ja Ihren Arm in der Binde? --“
„Dieser Arm würde mich zum Citizen machen“, betonte Hugo
mit starker Stimme, „wenn ich dieses Ungemach den Merikanern zu verdanken hätte -- Uncle Sam ist ein
trefflicher Seelsorger für den Geldbeutel verwundeter Soldaten -- aber er kümmert sich wenig darum,
wie viele Deckhandsund Feuerleute sich alljährlich den Arm oder Fußverbrühen-“
Der Prinz sah sich Hugo jetzt genauer an, der mit seinem
rothwollenen Hemde und dem Messerfutteral an der Seite, in
der That einem Deckhand oder Matrosen ähnlicher sah, als
einem ehemaligen Cheveaurleger-Offizier. --
„Sie sind auf einem Boote gewesen und haben sich den
Arm verbrüht, Hugo? Ist es wirklich so? --“ frug der Prinz
mit theilnehmender Miene -- „es ist schlimm für einen jungen,
gebildeten Mann, so hartes Lehrgeld bezahlen zu müssen und
wieder von der Pik auf dienen zu müssen, wenn man früher
schon einmal commandierte -- aber gab es denn keine
bessere Stellung zu erringen -- ich meinte, es wäre für Sie
ein Leichtes gewesen, einem anderen, weniger gefährlicheren Berufe Ihre Kräfte zu widmen --“
Hugo saß still, bald seine Schwester Constanze, bald seine Eltern anblickend.
Für diese schien nun der rechte Moment herangemaht, wo
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sie es, ohne zu mißfallen und zu belästigen, wagen durften,
hier anknüpfend die Serie ihrer erlittenen Leiden und Trübsale
dem Fortunatus Genie des Prinzen von Würtemberg zu entrollen. --
Melanie nahm auch jetzt wieder für ihren Gatten, dem
es überhaupt nicht viel gegeben war, zu sprechen, das Wort:
„Daß Sie uns in der traurigen Lage, in der wir uns
seit langer Zeit befinden, aufsuchten und als alte Bekannte begrüßten,
giebt mir das Recht, Prinz, Ihre Geduld etwas auf
die Probe zu stellen, indem ich Ihnen mißliche Verhältnisse
vorführe, deren eigentlicher Ursprung auf einer Nichtbeachtung
Ihrer so wohlgemeinten und erfahrenen Rathschläge beruht.
Doch vor Allem, Prinz, möchte ich Sie um die Erklärung Ihres
uns Allen so geheimnißvollen Zusammentreffens mit Gertruden
ersuchen, und wenn Sie uns die Gefälligkeit erwiesen haben,
diese Lücke auszufüllen, werde ich Sie bitten, mir weiterhin ein geneigtes Ohr zu leihen.“
Der Prinz wandte sich gegen einen hinter ihm stehenden
Schützling, ergriff Gertruden's Hand und nahm sie neben sich.
Da er augenblicklich bemerkt hatte, daß Gertrude von den
Worten ihrer Mutter betroffen war, so neigte er sich gegen die Eltern und sagte:
„Ehe ich Ihnen hierüber Aufschluß gebe, erlaube ich mir,
einen Protest zu beanspruchen, den ich erheben werde, falls
Gertrude etwas unconventionelles oder mit ihrem Gehorsam
als gute Tochter Unverträgliches begangen haben sollte.“
„Mit größtem Vergnügen, Prinz!“ erwiederte Melanie
und der Grafund vergaben schon aus bloßer Neugierde ihrem Kinde.
Gertrude wurde purpurroth im ganzen Gesichte, selbst
durch die schneeweiße Haut ihres Turteltaubenhalses glitzerte der Rubin des jungen Blutes.
„Prinz-nicht Alles!“ hauchte sie, so weich und schmel
zend, daß es dem Prinzen an die Wange brannte.
„Doch, Gertrude -- die Eltern werden Ihnen nicht zürnen.“
„Was wird da herauskommen?“ flüsterte Hugo Constanzen in's Ohr. -
Der Prinz fuhr fort:
„Heute ist es der dritte Tag, daß unser Schiff seinen
hiesigen Wharf erreicht hat. Eine Reise von Rio hieher ist
abmattend und in jeder Beziehung unerquicklich. Todtmüde,
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wie ich war, konnte ich es dennoch nicht unterlassen, die mir so theure Familie -- Melanie und
der Graf dankten mit einer leichten Verbeugung -- aufzusuchen. Als ich in Ihre mir noch
wohlbekannte Wohnung angekommen war, kam man mir mit einer Antwort entgegen, die mich
nicht nur nicht befriedigte, sondern sogar in die peinlichste Aufregung und eine früher nie
gekannte Unruhe versetzte. Die Gewißheit von noch so tragischer Färbung hat bei weitem nicht das
Entsetzliche an sich, als jenes ungewisse Herumtappen und Nachforschen. Jener mir ertheilte,
fast verletzende Bescheid führte meinem Geiste die verwirrtesten Bilder vor, deren undeutliche
Combinationen mich zwei Tage lang peinigten und endlich durch einen Zufall
oder eine Fügung Gottes -- wie man es nennen will, ein für mich wenigstens zum Theile
befriedigende Gestaltung annahmen --"
„Sie häufen zu viel der Artigkeiten, die wir durchaus
nicht verdienen, Prinz“, fiel Melanie in die Rede.
„Meine Gnädige -- wenn die Artigkeiten dem Herzen
entspringen, so sind sie unserem Freundschaftsverhältnisse eben
bürtiger, als die Wahrheit in rauhe Worte gehüllt --“ erwie
derte der Prinz von Würtemberg im ernsten, doch liebevollen Tone.
Ueber Melaniens Antlitz schimmerte ein leichtes Rosa,
wie die aufgehende Sonne auf einen Augenblick das blasse Antlitz Amathusia's röthet. --
Ihr Stillschweigen bezeugte dem Prinzen, daß sie geneigt
sei, dies ohne Widerrede zuzugeben.
„Auch heute war ich auf meiner mir zur Pflicht gemachten
Expedition begriffen. Ich fuhr zu diesem Zwecke nach Bouligny,
wo mir ein Freund lebte, eine herzensgute, treue Seele, der ich
jederzeit. Alles anvertraute, was mich ängstigte und quälte.
Auch diesmal wollte ich mir wieder Raths erholen und seine
Mitwirkung in Anspruch nehmen. Aber wie es sich hier so
oft ereignet, heute verläßt man einen Freund im besten Wohlsein, drückt ihm auf ein frohes,
baldiges Wiedersehen die Hand -- morgen kommt man und findet statt seiner einen Sarg.“
Mit weicher Stimme hatte der Prinz die letzten Worte
gesprochen -- dann ließ er weiter vernehmen:
„Von einer Familie, die durch das so unerwartete Ableben
ihres Ernährers in keine beneidenswerthe Lage versetzt wurde, schied ich mit dem Versprechen,
sie baldigst zu besuchen, um ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen,
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Gräfin Gertrude war, so werde ich den weitern Verlauf dieser
interessanten Begebenheit darnach regeln. Als ich so auf Gertruden hinsah,
um mir das in's Gedächtniß zurückzurufen,
was mir noch vor wenigen Monden so lebhaft vor den Augenstand,
betrat mich ein Mann, der mir schräg gegenüber im
Omnibusfaß, auf eine höchst merkwürdige Weise. Es schien
ihn zu verdrießen, daß ich der kleinen Gertrude so ganz meine
Aufmerksamkeit gewidmet hatte, und frug mich sogar im malieiösen Tone,
warum ich das blonde Kind nicht zu mir herein nähme --“
Gertrude stieß zufällig mit ihrem Ellenbogen an die rechte
Hüfte des Prinzen, dem dies mit Absicht zu geschehen schien.
„Fräulein Gertrude“, sagte er: „Sie werden mir gewiß
zürnen, daß ich Sie außen stehen ließ und nicht einmal Antalten traf,
Sie mit ihrer kleinen Freundin hereinzunehmen.
Wenn ich jetzt daran denke, scheint es mir selbst unbegreiflich;
wie es aber manchmal zu geschehen pflegt, man unterläßt aus
übervollem Interesse oft Pflichten, die schon der Anstand und
bloßes Wohlwollen erheischen. Aber mein liebenswürdiger Rivale
ist zu tadeln, daß ihm dies einfiel, ohne nicht schon vorher
der Jugend und Schönheit seinen geziemenden Tributgezollt zuhaben.“
Gertrude dankte mit ihrem Vergißmeinnicht Paar und sah
schelmisch nach Constanzen um, die es nicht unterlassen durfte,
die Hand an ihren Busen zu legen, um ein aufsteigendes
Kichern zu unterdrücken.
„Sie machen Gertrude zu stolz, Prinz“, sagte Melanie.
„Bald wird die „Rose von New-Orleans“ heißen, Constanze,“ flüsterte Hugo.
„Wenn ich nicht wäre Bruder“, entgegnete Constanze,
indem sie auf dasfeine Carmin ihrer Wangen herabfah. Dann
lüftete sie den Saum ihres Kleides, daß ihre beiden Füßchen
sichtbar wurden, um ihren Bruder auf diese schöne Gabe der Natur aufmerksam zu machen.
Mit Flammenaugen sah derselbe auf seine geliebte Schwester.
„Mein Nachbar“, fuhr der Prinz weiter, „mußte eben
aus einer Barbierstube getreten sein, und wenn man weiß, wie
verjüngt man einen solchen Ort verläßt, so konnte man es
ihm auch nicht verargen, wenn “er in die Schwachheit verfiel,
schön und auch jung zu scheinen. Ob er jung war, lasse ich
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dahingestellt; wenigstens war er trotz seiner in's Graue spie
lenden Haare jünger, als sein Nebenbuhler.“
Graue Haare und ein empfängliches Gemüth bieten oft mehr Garantie für dauerndes
Interesse, als das volle Haar eines jungen Mannes, den Eitelkeit und Einbildung mit unserem innersten
Seelenleben spielen lassen“ theilte Melanie ihre Liebenswürdigkeit zwischen dem Prinzen mnd dem Grafen.
„Damit wäre mein Nebenbuhler gerettet, meine Gnädige!“
„Das ist noch nicht damit gesagt, Prinz.“
Derselbe zuckte mit den Achseln.
„Eine komische Scene aber ereignete sich jetzt, bei deren
Vorführung ich mich kaum des Lachens erwehren kann“,
erzählte der Prinz weiter. „Als ich ausstieg, um mit meinem
blonden Geheimniß näher betrautzn werden, folgte mir mein
Nebenbuhler auf der Ferse nach und drohte mir -- aus welchen
Gründen ist mir noch diesen Augenblick ein Räthsel -- mich -- mich durchzuprügeln.“
„Sie spaßen Prinz!“
„Ich hab' es selbst gesehen“, bemerkte Gertrude.
„Sie sind mir auf einem anderen Omnibus entwischt,
Fräulein, und konnten leider diesem wunderbaren Ereigniß nicht bis zu seinem Ende beiwohnen.“
„Wie man aber doch unschuldiger Weise in so mißliche
Lagen gerathen kann“, bedauerte Melanie.
„Wissen Sie auch, wer ich bin, frug mich mein Nebenbuhler im hochmüthigen Tone,
indem er ein Auge zudrückte und mit dem andern widerspenstisch über seine Augengläser
hinwegsah. Wie sollt' ich's wissen, erwiederte ich ihm, von dem höchsten Erstaunen ergriffen.
Wissen Sie auch, wer ich bin und mit wem Sie es zu thun haben, und wissen Sie auch, daß mit mir nicht
zu spaßen ist? -- Ich, natürlicherweise in eine noch stärkere Spannung versetzt, konnte seiner Prätension
keine Genüge leisten, da ich den Mann vorher noch nie gesehen. -- Sie wissen also nicht, fuhr er dann fort --
ich bin doch kein Grünhorn mehr -- nun will ich's Ihnen sagen, damit Sie künftighin Ihr Benehmen gegen mich
darnach regeln -- ich bin --“
Alle horchten gespannt.
„Ich bin der Deputy Surveyor der zweiten Municipalität und documentierter Plan Inspector!“
„Was sagen Sie dazu, mein Herr? --“
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„Nun glaubte ich Wunder, was da kommen würde.“
„Was ist das für eine Charge!“
„Da habe ich noch nie davon gehört!“
„Es ist aber in der That lächerlich!“
„Prinz, Sie belieben zu scherzen?“
„Wenn er nur wenigstens gesagt hätte, ich bin der Präsident der Ver. Staaten!“
„Oder noch besser, ich bin der geheimnisvolle Gemahl von Madame de Pontalba.“
„Oder hätte sagen sollen: ich bin der reichste Pflanzer Louisiana's; an mehrere
hundert Meilen ziehen sich meine Plantagen hin -- ich bin ein Mann, sieht mich einmal an, bin
ich nicht mächtiger, als ein Fürst -- trage ich nicht das Schicksal des ganzen Südens in Händen? Ist nicht Bayou Sarah in
meiner Gewalt und führen da nicht alle Baumwollenballen mein Familienwappen!“
„Das wäre doch noch etwas gewesen!“
„Wobei man hätte ernst bleiben können!“
„Wo er Neider, statt Spötter gefunden hätte!“
Mit derlei Bemerkungen wechselten der Prinz, der Graf,
Melanie, Hugo und Constanze mehrere Minuten lang, bis
man erschöpft dem Ersteren wieder das Wort gönnte. --
„Wir trennten uns erst“, vollendete der Prinz von Wür
temberg seine Schilderung dieses mehr als komischen Vorfalles,
„nachdem wir gegenseitig unsere Kräfte an unserem Leibe erprobt.“
„Bis Sie Sieger blieben, Prinz?“ frug Melanie naiv.
„Von Siegen war hier keine Rede, meine Gnädige -
das verstand sich zuletzt von selbst -- obwohl der Planinspector
jetzt wahrscheinlich in der ganzen Stadt austrommeln läßt :
„ich kam, ich sah und siegte!“ --
Nun erzählte der Prinz den weitern Verlauf seines kleinen
Abenteuers mit seiner Blondine, das Körbchen mit Bohnen --
Lore -- die Lebensrettung, das Hieherfahren -- Nichts blieb“ verschwiegen.
Aber Gertrud hielt im Geheimen mit ihrem Herzen ein
vertrautes Zwiegespräch, in dem sie sich selbst gestehen mußte,
daß ihr Gefühl für ihren Retter mehr als Dankbarkeit sei.
War doch Gertrude trotz ihrer Jugend schon ein denkendes
Mädchen und das Caffeepicken nicht ihre einzige Beschäftigung.
Der mit dem Prinzen getroffenen Uebereinkunft gemäß
war nun die Reihe des Erzählens an Melanie.
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Augen geschlossen, wie ein junges Kätzchen. Manchmal eilte
Tantchen Cölestine auf Suschen zu und brachte die Hutschachtel wieder in sichere Position.
Sie selbst that nichts und stierte nur so vor sich hin. Das
Bologneserhündchen zerzauste ein silbernes Portepée Hugo's aus guten alten Zeiten. -
Der Prinz schien auf Tantchen gar nicht zu achten.
Amelie lief ein und aus, schleppte Austernschalen von der
Straße herein und baute sich ein Häuschen.-
„Ungefähr zwei Wochen nach ihrer Abreise, Prinz“
knüpfte Melanie wieder an, „hatten wir uns entschlossen, nach Wisconsin zu reisen, um uns
in diesem jungen, aufblühenden Staate anzukaufen. Wir begingen zu diesem Zwecke die taktlose
Routine, unser kleines Capital, das, wie Sie wissen, Prinz, aus fünfzehntausend Dollars bestand, von
Finley und Mathews zurückzuziehen. Zudem hatte mein Mann einen sonderbaren Widerwillen gegen
alle Depositen und zog es vor, diese ganze Summe in Papier umzuwandeln und sie in seinem Seeretair
aufzubewahren. Diese Summe sollte theils zum Ankauf einer Farm und der dazu nöthigen Utensilien und Geräth
schaften, theils zu anderweitigen Lebensbedürfnissen verwandt werden. Doch unser Schicksal wollte es anders.“
Melanie schwieg einen Augenblick.
Der Prinz benützte diese Pause und bemerkte:
„Was kommen mag, meine liebe Gräfin, ahne ich kaum -- doch erlauben Sie mir
etwas vorzugreifen. Wie kommt es, daß Sie nicht das früher von uns besprochene Geschäft übernommen haben, bei
dessen richtiger Leitung und Führung. Ihnen in wenigen Jahren ein nicht unbedeutender Vortheil entsprungen
wäre? Mit fünfzehntausend Dollars konnten Sie, so viel ich mich noch erinnern kann, jenes Geschäft an sich kaufen.“
„Mir sind meine zweitausend Dollars auch weggekommen
--“ rief plötzlich Tantchen Cölestine dazwischen.
„Beruhige Dich, Tantchen, der Prinz wird auch dies erfahren,“ bat Melanie. -
„Der Mensch denkt und Gott lenkt, mein Prinz - unsere
Pläne scheitern oft, wenn die Hebel zu ihrer Ausführung noch
so genau in Bewegung gesetzt werden,“ wandte sich Melanie an den Prinzen.
„Sie sind doch keine Fatalistin, meine liebe Gräfin? In diesem Lande muß man Denken und
Lenken selbst übernehmen und der weisen Vorsehung durchaus nichts zutrauen oder
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überlassen, wenn man es selbst zu thun im Stande ist,“ entgegnete derselbe.
„Oder gar gegen den Himmel anstürmen,Prinz?“
„Ja -- dem Fatum seine Kraft nehmen und sie selbst in unsere Hand legen!“
„Schweigen wir von diesem Thema, mein Prinz - erlauben Sie mir meine
traurige Geschichte zu vollenden.“
„Entschuldigen Sie, meine Gräfin, daß ich Sie vorher unterbrochen habe.“
„Am selben Tage, als uns das große Unglück, das Sie
gleich vernehmen werden, betraf, war Hugo ausgegangen und
wollte sich die Stadt noch einmal recht genau besehen, da wir
uns entschlossen hatten, in ein Paar Tagen New-Orleans zu
verlassen. Da wir aus den Zeitungen erfuhren, daß die westlichen Gewässer des Eises halber nicht mehr fahrbar seien, so
wollten wir uns so lange in St. Louis aufhalten: Hier wollten
wir den Winter zubringen, bis uns der Eisgang nicht mehr
hindernd in den Weg trat, unsern Auszug in's gelobte Land --
wie wir Wisconsin nannten -- zu bewerkstelligen. -- Sie werden mich im Stillen der
Umständlichkeit anklagen, mein Prinz, und mir es vielleicht verübeln, daß ich mit dem eigentlichen
Thatbestand so lange zaudere. Das liegt in uns Frauen ein
mal und es wird mir stets schwer, das so leichten Kaufes los
zuwerden, was eine so entsetzliche Wirkung für unser Familien leben hatte.“
„Es würde mir wehe thun, meine Gnädige -- wenn Sie
an meiner Einsicht in den Gedankengang eines Weibes nur im Geringsten zweifeln würden. Frauen
lieben die Prämissen und sind hierin gewissenhafter, als die Philosophen der modernen Schule, deren
Logik darin besteht, daß sie beweisen, was sich von selbst versteht.“
„Ich sehe, mein Prinz, wir gehören in das Zeitalter der
Medicäer“, entgegnete lächelnd Melanie.
„Und ich stelle mich Franz von Sickingen zur Seite“,
sagte der Grafpathetisch und sah auf seine Gattin, als erwarte
er von ihr ein Zeichen der Bewunderung wegen der Stichhaltigkeit seiner Bemerkung.
„So erzähle doch weiter, Mutter; was Hugo gesehen und
wie es uns damals erging“, sagte bittend Gertrude, die noch immer an der Seite des Prinzen saß.
„Wie wir uns so in süßen Träumereien der Zukunft ergingen,
stürmt Hugo eines Tages die Treppe herauf und erzählt uns,
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daß das prachtvolle St.Charles Hotel in Flammen stehe, und daß zugleich die Methodistenkirche in
Poydrastraße vom Feuer verzehrt werde. Er giebt uns hierauf eine so furchtbare Beschreibung des Brandes,
wie der Monopteros von der Kuppel des Hotels herabgestürzt und in den Porticus geschlagen, und
wie eine der großen Säulen quer über die Straße gefallen sei und zwei Kinder erschlagen habe und noch
Anderes mehr, daß ich, als der Abend hereinbrach, eine so auffallende Beklommenheit spürte, wie noch
nie in meinem ganzen Leben. Wenn einmal die Phantasie mancher Menschen aufgeregt ist, so läßt
sie sich nicht mehr zügeln und sie erschafft oft Bilder und Phantome, die einer Welt angehören, von
der wir uns keine Rechenschaft geben können. So erging es auch mir an jenem Abend.
Ich sah im Geiste nichts als hochauflodernde Flammen, Feuer spritzen, eingeäscherte Tempel, stürzende
Säulen, dichte Rauch wolken und manchmal schien es mir, als säße ich selbst mitten in einem ungeheuren Flammenmeere
-- ich schrie um Hülfe, rief meinem Manne, meinen Kindern, dann sah ich mich plötzlich
wieder allein, getrennt und geschieden von allen meinen Lieben.“
Melanie sprach diese Worte in solchem Eifer, daß sich ihr ganzes Gesicht röthete und
ihre Augen eine Lebhaftigkeit sprühten, wie sie der Prinz noch nie bemerkt hatte.
„Gräfin, ich glaube zu ahnen -- es war dies eine Vorbedeutung“, sagte mit stillem Ernte der Prinz.
„Je näher die Stunde herankam, in der wir uns gewöhnlich niederlegen, desto mehr nahm
meine Angst und Beklommenheit zu. Ich sagte dies meinem Manne. Derselbe schrieb
meinen ängstlichen Zustand der Beschreibung der Feuersbrunst zu und vindicirte mir Ruhe und Besserung auf den kommen den Tag.“
„An Vorbedeutungen zu glauben, kam mir immer lächerlich vor, aber wenn ich an jene Schrecknisse
zurückdenke, so wird meine nüchterne Definition, die ich früher von dergleichen
Dingen gegeben, zu Schanden“ warf der Graf ein.
„Wir legten uns zu Bette. Ich aber hatte keine Ruhe und
konnte nicht in Schlaf kommen. Ich ging ins Nebenzimmer und bat Constanze sich zu mir zu legen, um noch ein wenig zu
plaudern, und sich so die Zeit zu vertreiben, bis sich ein gelinder Schlummer auf die Augen senken würde.-- Constanze
laberirte noch immer an ihrem Widerwillen, den sie gegen eine zweckdienliche Stellung bei der alten Schottin hegte. Diese
Nacht schien sie es förmlich darauf abgesehen zu haben, mich
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mit ihren Ansichten zu quälen. Doch ich ließ sie ruhig gewähren, da es mir überhaupt nur um Unterhaltung zu
thun war.Auch von Ihnen, mein Prinz, war in jener Nacht die Rede --“
Hätten der Prinz und Melanie diesen Augenblick den Grafen angesehen, so hätten
sie bemerkt, daß ihm die letzteren Worte nicht recht behagt hatten; denn er machte ein ärgerliches
Gesicht und klappte einen Pfeifendeckel mehrere Male nach Einander auf und zu -- was er doch gewöhnlich nie that.
Er war wie alle Männer, die schöne, reizende, geistreiche
Frauen haben. Sie sehen es wohl gerne, wenn ihre liebe Ehehälfte durch Schönheit oder reizendes Ensemble frappiert; sie
hören es gerne, wenn man sie lobt wegen der Fülle und des Reichthums ihrer Gedanken, wegen der blendenden Schöne
ihres Geistes, wegen der Vortrefflichkeit ihres Herzens, wegen der Liebe für ihre Kinder, wegen der zarten Hingebung an den
Gatten, den man zum Ueberflusse, und daß er es hört, als den beneidenswertheiten unter den Sterblichen schildert -- aber
dies mag wohl kein Mann ruhig hinnehmen und wäre er auf den Eisschollen Grönlands geboren.
Doch der Unmuth des Grafen war nur vorübergehend.
„Constanze,“ erzählte Melanie weiter, „konnte nicht begreifen, warum man ihr zugemuthet hätte, in den Dienst zutreten,
da sie doch für ihre eigene Person Domestiken beanspruchen könnte. Sie wollte nicht einsehen, daß wir dies nur
wünschten, um durch diesen Schritt ein intimeres Verhältniß mit der einflußreichen Schottin anzuknüpfen. Sie gefiel Mistreß
Evans, wie Sie uns damals selbst sagten, Prinz, und Sie wünschte sehnlichst, Constanzen bei sich zu haben. Wäre
Constanze nur einmal da gewesen -- das Andere hätte sich von selbst gegeben. Daß wir auf andere Weise, als in dieser Form,
keinen Zutritt zu ihr erhalten konnten, wußten wir Alle; denn außer Ihnen, Prinz, hat sie schon seit Jahren. Niemanden zugelassen -- --“
„Außer Herrn Dubreuil, ihren und ihrer Tochter Beichtvater“, schallt der Prinz ein.
„Und wenn Mistreß Evans gewußt hätte, daß ich Sie nur deshalb besuchte, um hinter die
abscheulichen Ränke dieses Pfaffen zu kommen, hätte Sie mir sicher die Thüre gewiesen -- denn, da sie den Priester für einen
ausgezeichnet frommen und ehrbaren Mann hält, hätte ihr schon ein bloßes Mißtrauen gegen die Heiligkeit seiner Person ein
großes Verbrechen geschienen. --“
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„Wenn man sich vorgenommen hat zu schlafen, kann man
sicher darauf rechnen, daß man gerade munter bleibt; während,
wenn man den Schlaf verbannen will, derselbe sich um so gewisser einstellt.
So geschah es auch in jener verhängnißvollen Nacht. Constanze schlief zuerst an meiner Seite ein. Dann
kam in wenigen Minuten die Reihe an mich. Es war eine ruhige, stille Nacht, nicht durch das geringste
Geräusch auf der Straße oder im Hause unterbrochen. Nur vom Nebenzimmer herein hörte ich das leise
Athmen meiner andern Kinder.
Mit was man sich den Tag über sehr eifrig beschäftigt,
davon träumt man zur Nachtzeit gewöhnlich.
Meine Sinne umgaukelten auch in der Traumwelt prasselnde bis an den
Himmel leckende Flammen, zusammenstürzende Häuser, riesige Rauchsäulen, die
allenthalben emporstiegen und mir nach keiner Seite hin einen Ausweg öffneten -- da
fuhr ich plötzlich aus dem Schlafe und als ich meine Augen öffnete, sah ich gelbes Licht vor den Fenstern vorbeistreichen
und den Spiegel, der unserm Bette gegenüber hing, wie in Flammen getaucht. Ich rieb mir die beiden Augen, öffnete
sie und schloß sie; dann öffnete ich sie wieder, um mir auch
gewiß zu sein, daß ich wachte. Da hörte ich das Rasseln der
Maritze und das unheimliche Feuer Rufen eines Wachtmannes.
Ich rüttelte Constanze auf, die ganz schlaftrunken wieder in die
Kissen zurückfällt und unverständliche Worte lallt. Ich springe
aus dem Bette, wecke meinen Mann, meine Kinder, Tantchen
-- es war die höchste Zeit, mein Prinz! Die Scheiben eines
Fensters sprangen und durch die Oeffnung leckten die Flammen.
Prinz, es war ein fürchterlicher Moment.“
Melanie schwieg einige Augenblicke und drückte ihre Hände gegen den Busen.
Mit der höchsten Spannung hing der Prinz an ihren Zügen,
„Ich trieb meinen Mann, meine Kinder und Tantchen,
kaum halb angekleidet, zur Thüre hinaus und ließ nicht
nach, bis Alle die Treppe hinabgeeilt waren. Wie ich später
erfuhr, war Tantchen Cölestine wieder zurückgekehrt und warf
einige Federbetten in den Hof hinab. Ich war schon bis zur
Hälfte die Stufen der schmalen Treppe hinabgeeilt, da fällt mir
plötzlich das Geld ein, das mein Mann im Sekretär, der neben
meiner Schlafstube stand, aufbewahrt hatte. Es war kein
Augenblick zu verlieren. Als ich in die Stube mehr hineinflog
als ging, da fiel mein erster Blick auf jenes Bild, Prinz, das
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dort über dem Kamin hängt, und, wie Sie wissen, meinen Emil in Pagenkleidung vorstellt -- --“
Heiße Thränen perlten bei diesen Worten über die Wangen Melaniens und fielen auf ihre schönen Hände.
„Mutter, Mutter, schien mein Emil zu fliehen -- willst
Du mich hier umkommen lassen? Mutter, Mutter! nimm
Dein Kind in Schutz -- mein Prinz, das Gesicht meines Sohnes war vom Wiederschein der um die Fenster leckenden
Flammen wie verklärt -- ich griff schnell nach einem Stuhle, nahm
das schwere Bild mit Leichtigkeit herab und mit diesem Schatz
auf dem Arme, wollte ich eben aus dem Sekretär das aufbewahrte Geld, unser ganzes Vermögen, retten -- --“
Melanie legte ihre rechte Hand auf die Stirne und schien nachzudenken.
„Es wird mir stets unheimlich zu Muthe, mein Prinz,
wenn ich des jetzt erfolgten Ereignisses gedenke; umsonst suche
ich alle meine Geisteskräfte zu fassen, um hievon ein klares
Bild zu geben -- schon hatte ich das Geld in Händen, da
faßte mich eine todtenbleiche Gestalt mit der einen Hand am
Arme, mit der andern greift sie nach dem Gelde und ist wie
der Blitz von dannen. Ich stürze nach, ein Trupp Feuerleute
kommt eben die Treppe heraufgerannt -- die Gestalt konnt' ich
nicht mehr erblicken -- mein Prinz, wir waren plötzlich arme
Leute -nur das Mutterherz birgt noch einen Reichthum, das
Andenken an den verlornen Sohn, dessen Bildniß dort an der grauen Wand hängt. --
Melanie verließ ihren Sitz, ging an dasKamin und starrte
ihrem Sohne lange, sehr lange in die hellblauen Augen.
Der Prinz war bis zu Thränen gerührt.
Der alte Graf ließ seine Pfeife aus dem Munde fallen
und sah bekümmert auf seine Gattin.
Hugo und Constanze hörten auf, sich zu necken und zuzu
flüstern; Gertrude legte ihr blondes Köpfchen in den Schooß des Prinzen und schluchzte.
Die kleine Amelie ließ ihr Häuschen einfallen, das sie mit so großer Mühe aus
den hereingeschleppten Austernschalen aufgebaut hatte und eilte weinend auf die Mutter zu.
Nur Tantchen Cölestine blieb kalt und scherzte sogar mit
dem Bologneser, den sie in die Ohren kniff, daß er sich winselnd unter ihr Kleid verkroch. --
Der Prinz hob jetzt Gertrudens Köpfchen von seinem Schooße auf und ging auf Melanie zu:
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„Lassen Sie der Vergangenheit ihre Leiden und Schmerzen, meine Gräfin,
und hoffen Sie auf die Freuden der Zukunft,“ tröstete der Prinz.
„Mein Prinz, ich bin eine reiche Frau, meine Leiden verwandeln sich in Freuden,
wenn ich hier meinem Sohne in die Augen sehe. Das hatte der Künstler, als er dieses Bildniß
schuf, nicht geahnt, daß einst eine Zeit kommen werde, wo das Mutterherz in ihm den Sohn wiederfindet.“
„Es wird sich auch das Original finden, meine liebe Gräfin,
vertrauen Sie auf mich und auf die Zukunft. Ich weiche nicht mehr von der Seite ihrer Lieben, bis ich sie alle glücklich
und geborgen weiß.“
„Königl. Hoheit -- wie erwärmen. Sie mein Herz -- wie wohlthuend ist es, in diesem
Lande, wo man das Mitgefühl für die Leiden und Trübsale Anderer nicht kennt, eine so rege
Theilnahme zu finden“, sagte der Graf. --
„Und Sie können sich der Gestalt und der Gesichtszüge
nicht mehr erinnern, meine Gräfin?“ frug der Prinz Melanien, als die Gemüthsruhe wieder in so weit
hergestellt war, daß man sich neuerdings in einer Conversation ergehen konnte.
„Es war nur ein Moment, mein Prinz, und doch hat sich
mir ein ganzes Aeußere so tief eingeprägt, daß ich ihn aus
Tausenden herausfinden könnte -- diese Gesichtszüge, Prinz,
sind mir unvergeßlich -- noch nie sah ich einen so bösen, wahrhaft
satanischen Blick -die Gestalt trug lange pechschwarze
Haare und einen dunklen Bart und sonderbar, wie es manchmal geschieht,
daß man in einem einzigen Augenblicke. Alles
erfaßt, so bemerkte ich auch eine breite Narbe an seiner Wange --“
„Sie haben die Person früher noch nie gesehen?“
„Nein, mein Prinz, um so unbegreiflicher ist es mir, wie sie
von dem Gelde wußte.“
„Er hat wahrscheinlich nicht eher davon gewußt, als bis
er es gesehen. Es wird wohl einer von jenen gewandten Dieben
gewesen sein, die sich zu Tausenden in New-Orleans herumtreiben,
und wenn irgendwo ein Feuer ausbricht, immer die Ersten
sind, die in die Häuser dringen und die bestürzten Leute, unter
dem Vorwande ihnen ihre Hülfe anzubieten, oft mit der größten
Frechheit bestehlen. Als er in das Zimmer trat, in dem Sie
eben das Geld aus dem Sekretär nahmen, hatte er dässelbe
mit seinen scharfen Diebsaugen gleich als gute Beute erkannt
und es Ihnen entrissen, meine Gräfin. -- Sie sehen, es läßt
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als sie verzweifelnd in die Höhe sprang und sich wie eine Wahnssinnige geberdete.
Fünftes Capitel
Tantschen Coelestine.
„ . . . . . . . Disvuol cio che volle
E per nuovi pensier cangiaproposta
Si che dal commenciar tutto si tolle. −“
(Dante.)
Um sich das wahnsinnige Geber den Tantchen Cölestine's
beim Anblicke des kleinen Mannes zu erklären, müssen wir in die Jahre ihrer Mädchenzeit zurückgehen.-
Der Rittergutsbesitzer von Nesebeck war in Magdeburg
als einer der reichsten Cavaliere bekannt. Den Winter brachte
er gewöhnlich mit seiner Familie in der Stadt zu, und nur
während der Sommerzeit hielt er sich auf seinem in der Nähe
der Hurburg gelegenen Gute auf. Dem Touristen ist die
Hurburg wohlbekannt, auf deren Anhöhe, rings von dichtem
Gehölze begränzt, die Kirche mit dem Nonnenkloster steht. In
ihrer Nachbarschaft ist ein treffliches Wirthshaus eingerichtet,
das besonders zur Ferienzeit von den Studenten Jena"s und
Leipzig"s stark frequentiert wurde. Concerte und Bälle wechsel
ten mit glänzenden Commercen und Suiten und mancher
Nonne mag es oft ganz weh um's Herz geworden sein, wenn
sie über die Klostermauern hinüber blickte, wo die Musensöhne
begeisternde Burschenlieder sangen und mit ihren Haurapieren
muthwillig in der Luft herumfuchtelten oder sich in neuen
Finten übten. Herr von Nesebeck, als echter Lebemann und
routinierter Kneipier, der der leidenschaftlich durchbrachten
Burschenzeit die schönsten Jahre seines Lebens verdankte, kam
öfter in Begleitung seiner beiden Töchter von seinem Rittergute
herüber nach der Hurburg, wo er dann dieselben zur würdigen
Aebtissin führte, die den Schwestern in ihrer huldvollen Güte
so manche Schächtelchen, gefüllt mit den ausgezeichnetsten und
feinsten Nonnenfürzchen, zukommen ließ. Diese Nonnenfürzchen
der Klosterfrauen auf der Hurburg waren ursprünglich
für die Trüffelhunde des Grafen Görz bestimmt, die nach dem
Genusse jener Fürzchen ein sicherer Instinkt nach dem genann
ten Bodengeheimniß leitete. Wer schon Trüffel an der Tafel
des Grafen Görz gespeist, mag den Unterschied zwischen ihnen
und den anderswo genossenen gehörig zu würdigen verstehen.
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Herr von Nesebeck holte seine Töchter erst wieder aus dem Kloster, wenn er mit den anwesenden
Burschen- und Landsmannschaften gehörig gekneipt und geölt hatte. Brachte er eine neue Jagdmütze mit
auf die Hurburg, so hatte sie daselbst der Landesvater so arg mitgenommen, daß es eine Schande
gewesen wäre, sich keine neue zu kaufen.
Hatte doch Herr von Nesebeck so viel überflüssiges Geld, daß ein Beutel nicht leer
geworden wäre und wenn er sich jede Sekunde sein ganzes Leben lang eine neue Jagdmütze hätte kaufen müssen.
Eine Jagdmütze kostet natürlicherweise nicht so viel, als
ein echter Panamafrohhut, und ein preußischer Thaler ist auch ein lumpiges Ding gegen einen Dollar „e pluribus unum.“
Herr von Nesebeck war bereits das dritte Mal verheirathet
und deßungeachtet schien er Alles eher zu sein, als ein Ehemann. Wer ihn in einem kurzen, knappen Jagdhabit sah, mit
dem weißen gestickten Kragen, um den ein grünseidenes Halstuch locker geschlungen war; wer die Sorgfalt bemerkte, mit
der er seinen Schnurrbart pflegte und heranzog, wer sich mit ihm in Gesellschaft von Damen befand, wer ihn auf
den Studentencommercen kneipen sah -- hätte sicher geglaubt, Herr von Nesebeck hätte sich noch nie zwischen die
Wendekreise eines Ehebettes gewagt, sondern wäre noch auf Freiersfüßen und ein unausstehlicher Junggeselle, der
es vorzog, fein Vermögen selbst zu verprassen, statt daß er sich hätte anschicken sollen, ein Weib zu nehmen, um
mit ihm die Freuden und Leiden dieses sonderbaren Erdenlebens zu theilen.
Es giebt Männer, die förmlich vom Schicksale auserlesen
zu sein scheinen, daß sie mehrmals heirathen müssen. Sind sie
in den Banden der Ehe verstrickt, so wünschen sie sich den Wittwerstand, und sind sie durch den Tod ihrer geliebten Ehehälfte
zum zweiten Male freigeworden, so sticht sie der Hafer zum
Drittenmale und sie schließen neuerdings mit Hymen einen
Bund. Solche Männer dürften zwanzigmal das Unglück haben,
ihre Frauen zu verlieren, sie würden zum ein und zwanzigsten Male wiederholt heirathen.
Das Verhältniß solcher Männer zu den Weibern gestaltet
sich ganz anders, als das der sogenannten „treu bis in den Tod bleibenden Ehemänner.
Während die Letzteren bei ihren Bewerbungen der Dame
ihres Herzens die Cour machen müssen, um zu ihrem legitimen
Besitz zu gelangen, so wird jenen Ehemännern von den Damen
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die Cour gemacht. Hier verliebt sich die Dame
in den Herrnund verführt ihn -- dort liebt und verführt der Herr die Dame.
Ein ähnliches Verhältniß finden wir bei manchen Reikenarten. --
Herr von Nesebeck war ungefähr fünf und dreißig Jahre
alt, als er die dritte Frau nahm. Sie war das jüngste Kind
des Grafen von Arco Valley und ein wahrer Engel an Liebenswürdigkeit und Herzensgüte. In seine dritte Ehe brachte
er ein Töchterchen, das ihm seine erste Frau, ebenfalls aus
einer reichen und beguterten Familie, zum Andenken hinterlassen hatte. Es hieß Cölestine, welchen Namen man, als es
fünf Jahre zählte, gegen den frühern „Henriette“ umgetauscht
hatte. Es hätte auch in der That für das schöne Kind keinen
passenderen Namen gegeben. Man hätte es kaum glauben,
follen, daß Cölestine die gewöhnliche Region des Lichter blickens
passiert habe; sie schien ein echtes Kind des Himmels, ein
Stern zu sein, der auf die Erde gefallen war. So licht, so
sonnig, so rosig, so rein, so himmlisch war weit und breit kein Kind zu sehen.
Herr von Nesebeck nannte sie stets seinen Herzensschatz,
und wenn er Feten gab, so war des Bewunderns und Liebkosens kein Ende. Hatte der Vater Freunde und Bekannte mit
an seine Tafel gezogen, so stellte er Cölestine mitten auf den
Tisch und ließ seinem Töchterchen von den Cavalieren auf eine verschwenderische Weise Weihrauch streuen.
Wem dann Cölestine bei dieser Gelegenheit Kußhändchen
zuwarf, der hob sich und prahlte, als wäre ihm von seiner Göttin das erste Zugeständniß entriert.
Solche Tage verlebte das Kind Cölestine. --
Auch seine dritte Frau beschenkte ihn sehr bald mit einem
Töchterchen, dem man den Namen seiner Mutter, Melanie,
gab. An dem Tage, an dem Melanie geboren wurde, feierte Cölestine ihren zehnten Geburtstag.
Tags darauf starb die Mutter und dieser Vorfall trübte auf einige Zeit die
Freude, die man bei der Geburt eines neuen Sprößlings des Geschlechtes der von Nesebeck empfand.
Ein Jahr nach dem Hinscheiden seiner dritten Frau war
Herr von Nesebeck den Wittwerstand schon wieder überdrüssig
geworden. Doch diesmal unternahm er seine Brautfahrt nicht
mehr in die Gaue Preußens oder Altbaierns, sondern er wandte
sich nach dem Lande der Nibelungen und warb eine ungarische
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Zukunft nicht mit so tödtender Gleichgültigkeit behandelt zu werden“, sagte eines Tages der preußische
Minister von Sch*, einer ihrer vielen Bewerber, zu Herrn von Nesebeck.
„Ew. Ercellenz muthen mir zu viel zu, wenn Sie glauben, daß ich im Stande
wäre, über das Herz meiner Tochter nach Belieben verfügen zu können“, antwortete ihm der Vater der schönen Cölestine.
Der preußische Minister machte gute Miene zum bösen Spiel.
Er hielt jedoch sein Wort und betrat von dieser Zeit an nie mehr das Haus Herrn von Nesebecks.
Wie sich der Minister aber an seiner Tochter rächte, sollte er gar bald erfahren.
Um diese Zeit hielt sich in Magdeburg ein Creole auf, der
wegen seiner Gewandtheit in allen romanischen Sprachen und
überhaupt wegen seiner sonstigen ausgebreiteten Gelehrsamkeit
ein bedeutendes Furore machte. Der Abbé Dubrueil --
so hieß der Creole -- war in allen Circeln der Löwe des Tages
und trotz seiner kleinen, schmächtigen Figur von allen Damen
mit nicht geringer Theilnahme betrachtet. Er war erst kürzlich
aus Louisiana angekommen und auf einer apostolischen Sendung begriffen. Da ihn gewife vom päpstlichen
Stuhle zugeskommene Aufträge auf die Dauer von mehreren Jahren in
Magdeburg fesselten, so hatte er auf sein Nachsuchen unter
andern vom erzbischöflichen Ordinariat die Erlaubniß erhalten,
bei den Klosterfrauen auf der Hurburg als Beichtvater fungieren zu dürfen.
Eines Tages erhielt der Abbé folgenden Brief:
„Ew. Hochwürden
M. Dominique Dubreuil!
Einige kostbare Mittheilungen, die mir betreffs Ihrer
werthen Persönlichkeit zukamen, ließen es mich wagen, Ihnen
hiemit ein Anerbieten zu machen, gemäß welchem Sie sich
auf leichte Weise eine Summe Geldes erwerben können, die
Ihnen das Honorar, das sie Ihrer apostolischen Sendung
verdanken, als Rechenpfennige erscheinen läßt. Sobald ich
mich versichert halte, daß Sie den Forderungen, die ich bei
folgend an. Sie stelle, eifrig nachzukommen bestrebt sind, so
werde ich Ihnen auf solidem Wege die Summe von zehntausend Thalern,
als die Hälfte des Ihnen hiermit bestimmten Betrages, zukommen lassen.
Die andere Hälfte werden Sie erhalten, wenn Ihre Bemühungen von einem sichern
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Erfolge gekrönt sein werden. Befürchten Sie nicht, durch
Annahme dieses von mir gestellten Antrages, in Zukunft sich
auf irgend eine Weise zu compromittieren; denn die Wege,
welche ich Ihnen zur Ausführung meines Plans eröffnen
werde, sollen Ihnen den Beweis liefern, wie überflüssig hier
ein etwaiges Mißtrauen sei. Sie werden nicht erschrecken
und im geringsten zaudern, wenn ich Ihnen hiemit erkläre,
daß ich Sie für einen Mann halte, der für Geld. Alles zu
thun im Stande ist. Diese meine Aufrichtigkeit soll Sie
vielmehr bewegen, mir Ihr ungetheiltes Zutrauen zu schenken.
Sollten Sie mich wegen der eben ausgesprochenen Worte
selbst für einen Schurken oder Spitzbuben halten, so würde
ich Ihnen deshalb nicht zürnen; es wäre mir sogar sehr
lieb, wenn Sie dies thun würden, da wir dann Beide nichts
von Einander zu befürchten hätten. Doch zur Sache: Sie
kennen das schöne Fräulein Cölestine von Nesebeck und haben
sie, da Sie Ihr Beruf als Beichtvater öfter auf die Hurburg
führt, gewiß schon mehrere Male bei den Klosterfrauen an
getroffen. Cölestine von Nesebeck ist eine gute Katholikin
und somit ein herrliches Opfer der Habsucht eines Priesters
der alleinseligmachenden Kirche. Diese Parenthese bemerkte
ich Ihnen nicht deshalb, um Sie auf die rechten Mittel aufmerksam
zu machen, da ich wohl weiß, daß ein so gewandter
Diener des hl. Ignatius von Loyola keine Belehrung von
einem Laien annimmt, sondern ich wollte damit nur ungefähr
andeuten, was Sie vielleicht erst zu suchen hätten. Wie ich
aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, so hat das Fräulein
von Nesebeck einem jungen Studenten aus Jena ihr bisher
noch frei gebliebenes Herz geschenkt und schickt sich vielleicht
eben an, ihren Vater zu überreden, ihr zu einer Verbindung
mit demselben hülfreich an die Hand zu gehen und den Familienrath
dahin zu bringen, daß derselbe seine Erlaubniß
hiezu gebe. Diese Verbindung muß unwiderruflich entweder
auf Jahre hinausgeschoben oder was noch besser wäre, gleich
vernichtet werden. Sollte jedoch besagte Verbindung auf
hartnäckigen Widerstand des Familienrathes stoßen -- was
sehr leicht möglich wäre, da der glückliche Brautwerber von
bürgerlicher Herkunft ist -- so sollten Sie deshalb nicht abgehalten
werden, die Liebenden auf eine Weise zu trennen,
die keine Annäherung mehr zuließe. --
Unter der Chiffre A.Sch., Berlin, postrestante, werde ich
Ihrer Antwort mit Sehnsucht entgegenharren. --
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Nachschrift. Fürchten Sie meinen Einfluß, falls
Sie es wagen sollten, mir weitere Bedingungen zu stellen.“
Für den abgefeimten Priester, der noch nie vor einer Schwierigkeit zurückgewichen war,
war es ein Leichtes, sich in den Besitz der versprochenen Summe zu setzen. Das Erste,
was er vornahm, war, daß er genaue Erkundigungen nach den Familienverhältnissen des Herrn von Nesebeck einzog. Er ließ
sich von einer hochgeachteten und angesehenen Person dem Rittergutsbesitzer und seiner Familie vorführen, und hatte sich
in kurzer Zeit so beliebt und fast unentbehrlich gemacht, daß ihm der alte Herr von Nesebeck die ausschließliche Seelsorge
für seine beiden Töchter anvertraute. Er ertheilte denselben Unterricht in fremden Sprachen und den Dogmen der katholischen
Kirche und hatte sich bald das Vertrauen des Fräulein Cölestine in so hohem Grade erworben, daß ihn dieselbe um
die Begünstigung ersuchte, ihr Beichtvater zu werden.
Um dieselbe Zeit wurde an einem jungen, adeligen Studenten,
der zu Pferde auf einem Retourwege nach der Universitätsstadt begriffen war und eine schwere Börse bei sich führte,
ein schaudererregender Raubmord begangen. Trotz aller Nachforschungen von Seiten der betreffenden Behörden war man
nicht im Stande, dem Thäter auf die Spur zu kommen. Da tauchte plötzlich das Gerücht auf, daß jenem Studenten, den
man als den künftigen Bräutigam des Fräuleins von Nesebeck bezeichnete, die erwähnte Unthat nicht ganz fremd sei. Ja, es
traten sogar Zeugen für die Bewahrheitung dieser Thatsache auf, so daß der unglückliche junge Mann gefänglich eingezogen
wurde, und nachdem er mehrere Wochen im Kerker geschmachtet, so wurde ihm der Urtheilsspruch auf lebenslängliches Gefängniß
bei harter Arbeit in Eisen. Wer schmiedete diese Ränke gegen das Leben eines lebenslustigen, jungen Mannes? Ein Priester
derjenigen Kirche, die jederzeit das Wort „Nächstenliebe“ im Munde führt, in der That aber wie ein Raubthier
über ihre Kinder herfährt und ihnen Ruhe und Frieden aus der Brust stiehlt.
Das war dem Creolen noch nicht genug.
Das Scheusal, nicht zufrieden mit der Belohnung, die es dem Versprechen gemäß, auch pünktlich
empfing, suchte die Lei den der unglücklichen Cölestine, die nun auf immer von dem Gegenstande ihrer Liebe getrennt war,
auf eine Weise für sich auszubeuten, wie sie der Satan nicht feiner auszufinnen im Stande gewesen wäre.
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Von ihren Angehörigen war außer Melanien jetzt Niemand
mehr am Leben. Die letzten Jahre des Herrn von Nesebeck
bildeten eine ununterbrochene Kette von Leiden und Trübsalen
aller Art. Abgesehen davon, daß ihm der entsetzliche Zustand
seiner geliebten Cölestine jeden Lebensgenuß vergiftete, so
brachte ihn das ausschweifende Benehmen seiner Frau in
manchen Momenten fast zur Verzweiflung. Er verlor sie zwei
Jahre vor seinem Tode durch einen Sturz vom Pferde während
einer Steeplechase mit Puckler-Muskau. Der Fürst ließ sie
auf seinem eigenen Gehöfte begraben, wo er ihr einen Schwan
von carrarischem Marmor, aufdem Amor reitet, als Denkmal widmete,
Der alte Nesebeck wußte sich kaum mehr zu fassen, als er
nach dem Tode seiner Frau die ungeheure Schuldenlast, die
dieselbe auf seine Schultern gehäuft, gewahr wurde.
Er starb entfernt von seinen Kindern und verlassen von seinen Zechbrüdern.
Melanie, die mit dem bairischen Grafen von * vermählt
war, hatte bereits fünf Kinder, von denen die ältesten, Emil
und Ernst, ersterer mit seiner Frau und deren Schwester nach Amerika wanderte. --
Zu dieser Zeit befand sich die Stiefschwester Melaniens,
das unglückliche Tantchen Cölestine, in der gräflichen Familie.
Zwar kamen hie und da noch einige Ausfälle ihres Irreseins zum
Vorschein, doch wurden sie sehr oft durch gesunde
Ertasen paralisiert. In manchen Augenblicken hatte sie übrigens
noch die fire Idee, verheirathet gewesen zu sein und ihren
Mann umgebracht zu haben. Sie phantasiert dann von Magdeburg, von der Elbe, träumt von einem Sträfling, der ihr
etwas zu Leide thun will und tritt in der Familie, seit sich die
selbe in Amerika befindet, oft als Unglücksprophetin auf.
Man hat sie mit über die See genommen.
Das ist Tantchen Cölestine.
Sechstes Capitel..
Korybantische Zufaelle.
O schone Kinderzeit im alten Vaterlande! O wunderbarres Leben und
Weben Deiner Mädchen, O Deutschland. Im Wald und auf der Flur -- im Hain und in der Laube, in der
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Scheune und hinterm Backtrog, in der Kirche und auf dem Tanzboden, in der Sennhütte und im Thale, auf dem Arme
und im Schooße, beim Kühemelken und Streusammeln -- O Mädchen, wie zauberhaft und mährchenreich wart ihr in Eurem
Deutschland! Mädchen, Ihr waret schon über die Jahre hinaus, wo man Euch keine Kinder mehr nennen konnte, und
dennoch freutet Ihr Euch noch über die Hobelspäne, die Ihr Euch als Locken um den Kopf bandet; Ihr hinget Euch ein
Kirschenpärchen hinter die Ohren und bildetet Euch ein, Ihr trüget ein Rubingeschmeide -- wie pochten Eure Herzen, Ihr
deutschen Mädchen, wenn Ihr ein Ei aufschluget und ein Zwillingspaar darin fandet! Woher kam all' dies Gefunkel und
Gezitter, dies Blühen und Lieben, dies Weinen und Sehnen? Es kam daher, weil Ihr noch nichts vom allmächtigen Dollar
gehört hattet, und keinen Molasses auf den Salat träufeln ließet; weil Ihr das „how much?“ noch nicht kanntet und es
Euch gar nicht einfiel, darauf zu sehen, ob Euer Nachbar ein „vacant“ oder „improved“ Lot besitze ; weil Ihr auf Eure
Blumenbeete mehr hieltet, als auf eine fashionable Dreß; weil Ihr lieber gestrickte als gewebte Strümpfe truget; weil man
Euch nicht dutch sondern deutsch nannte -- kurz, weil Ihr noch nicht wußtet, daß die goldenen Aepfel der Hesperiden einen
faulen Kern bergen. Ihr Mädchen und Frauen alle, warum habt Ihr Deutschland verlassen? -- -- -- Und Ihr Mädchen, denen man
in der alten Heimath die schlanken und zarten Leiber in den prunkvollen Mantel der Aristokratie gehüllt hat?
Nun, Ihr werdet in diesem Lande entweder Messalinen, oder -- was noch weit schlimmer ist -- Ihr verbrennt Eure Gefühle
auf dem Scheiterhaufen Eures Herzens. --
Erschrocken fuhr der Prinz von Würtemberg von einem
Sitze, als er Tantchen Cölestine beim Hereintreten des kleinen,
schmächtigen Männchens so entsetzt und wie verzweifelt sich
geber den sah. Gertrude griff nach seiner Hand und legte ihr
blondes Köpfchen an die rechte Hüfte des Prinzen. Derselbe
dankte mit einer scheinbaren Aufrichtigkeit dem Ankömmling
für seine Begrüßung mit einem leichten Kopfnicken und wollte
ihn eben der gräflichen Familie vorstellen, als das Benehmen
Cölestine"s sich in einer solch” fürchterlichen Weise äußerte, daß
sich die ganze Familie zu gleicher Zeit erhob und sich wie in Einen Knäuel zusammendrängte.
Das kleine Männchen, das bald auf den Prinzen, bald auf
Tantchen Cölestine hinsah, fand wie gebannt.
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Melanie, die dies bemerkte, rief ihm in ängstlichem Tone,
der nur zu deutlich zeigte, was sie litt, zu:
„Zürnen Sie uns nicht wegen der so unerwarteten Be
gegnung, mein Herr -- es wird wohl bald vorüber sein ...“
„Gnädige Frau, Sr. köngl. Hoheit wollen mir die Ehre
er zeigen, Ihnen in mir den Prediger an Rue des Ramparts
und den Beichtvater der Mistreß Evans vorzustellen --“
„Wie kommt es Hochwürden ...,“ wollte eben der Prinz
beginnen, als sich Cölestine auf den Ankömmling mit einer
Wuth stürzte, die diesen wie eine Leiche erbleichen machte.
„Mutter, Vater, Mutter, Mutter !“ schrieen die Kinder
durcheinander und wichen zurück.
„Sind Sie doch vernünftig, meine gnädige Dame und
lassen Sie meinen armen Kopf in Ruhe -- Gott beschütze
Sie, was haben Sie, was fällt Ihnen bei -- so lassen Sie
mich doch endlich los-Prinz, helfen Sie mir aus den Händen
meiner Bedrängerin“ rief Dubreuil -- den die geehrten Leserinnen bereits erkannt haben werden -- in verwirrtem Pathos,
als ihn Cölestine bei den Haaren ergriff und ihn herumzuschleifen drohte.
„Tante, laß ab oder ich gebe Dir mit meinem Degenstock einen Hieb -- dummes, altes Ding Du!“
schrie Hugo roh dazwischen und griff nach der erwähnten Waffe.
„Hugo!“ warf der Grafin strafendem Tone hin, „Du scheinst Dir in Deiner Rohheit zu gefallen,
stelle den Stock wieder an seinen Platz!“
Als sich Hugo zaudernd vom Blicke seines Vaters ab
wandte, begegnete er den Augen seiner Mutter, die ihn anzuflehen schien, den Vater jetzt nicht zu erzürnen. Dann riß sie
sich von Gertruden und Amelien, die sie bisher fest umschlungen
hielten, los und eilte auf das kleine Suschen zu, das durch
eine zu rasche Bewegung beim Aufwachen die Hutschachtel in eine gefährliche Stellung gebracht hatte.
„Nein, ich lasse Dich nicht“, rief Cölestine jetzt aus, indem Sie Dubreuil's Arme so nah" an
Einander drückte, daß sich die Ellenbogen berührten, „nein, nein, ich lass' Dich nicht --, sieh” mich nur an, sieh",
sieh", kennst Du mich nicht mehr -- -- ha, ha! ich hab' Dich noch nicht vergessen -- das sind
Deine Augen, das Deine Nase, und das Deine salbungsvollen Lippen -- Dominique Dubreuil, kennst Du mich nicht mehr?
-- Sieh', sieh' nur, wie Du jetzt zittert, sieh' in meine Augen, heiliger Mann und ist Dir jede Erinnerung
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umgekehrter Stellung von ihm weg und wieder hin, dann wieder
weg, bis sie endlich ihrem innern Drange in folgenden Ausdrücken Luft machte:
„Priester der Liebe, wie feig Du doch bist -- starker Gottesmann,
Du schreit wie ein Kind vor den Händen eines schwachen Weibes -- O Dominique Dubreuil, Du lächelt, weil
Du mich für verrückt hält -- hu, hu! Dominique Dubreuil, wie kommst Du mir vor? .... Seh' ich denn so alt aus, daß Du
mich nicht mehr kennt -- ich war doch so jung und schön wie Stanzchen -- sind meine Wangen nicht mehr roth, sind meine
Lippen so bleich? -- -- Du siehst mich jetzt wieder so väterlich und fromm an -- Dubreuil, Dubreuil: soll ich Dir wieder
im Beichtstuhl zu Füßen fallen? -- Dominique Dubreuil; Du bist so alt, so häßlich geworden, und doch erkenn' ich Dich noch
-- und Du solltest mich nicht mehr erkennen? Priester der Liebe, Beschützer der Unschuld, hast Du noch nie vom schönen
Fräulein Cölestine von Nesebeck gehört? ....“
Der Graf, welcher sich mit seinem Rücken gegen die
verschlossene Thüre gestemmt hatte, und Melanie, die ihm zur
Seite stand, hatten umsonst auf ein baldiges Ende der verrückten Excesse Tantchens gehofft.
Diese Auftritte, wie sie sich bisher schon so oft ereignet hatten, dauerten gewöhnlich nur
einige Augenblicke und Tantchen Cölestine setzte sich dann immer
wieder ruhig auf ihren Reisesack. Diesen Moment wollten sie
jetzt ruhig abwarten und redeten auch dem Prinzen zu, nicht
weiter einzuschreiten, sondern sie gewähren zu lassen. Es war
dann noch immer Zeit genug, Herrn Dubreuil ihren Zustand
auseinander zu setzen und ihn durch eine rege Theilnahme
wegen des ausgestandenen Schreckens zu entschädigen.
Sie sahen sich jetzt getäuscht; ja noch mehr, sie fanden
dießmal in den Worten Tantchens eine seltene Klarheit und
bewußte Betonung. Bei den letzten Worten Tantchens Cöle
stine zuckte Dubreuil trotz seiner Fassung, die er zu erheucheln
strebte, sichtbar zusammen. Sein fahles, aufgedunsenes Gesicht
schien sich zu verlängern, seine Kniee knickten ein und seine
Augen hafteten forschend und stechend auf dem Antlitze Cölestinens.
„Lassen Sie mich gehen, ehe wir noch einen größern
Skandal erleben -- Ihre verrückte Dame scheint es immer bunter treiben zu wollen“, sagte Dubreuil,
zu dem Grafen nnd Melanien gewandt, und ging auf die Thüre zu.
Der Graf schloß die Thüre auf.
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„Lassen Sie von diesem Vorfalle nichts verlauten, mein
werther Abbé -- es ist nicht unsere Schuld,“ sagte der Graf
leise zu Dubreuil, als derselbe, ohne darauf zu hören, hin auseilte.
Cölestine hinderte ihn nicht.
Sie hatte sich vor das Kamingestellt und schien wieder beruhigt.
Melaniens Shawl, den Gertrud über das Fenster gehängt,
um so den Vorübergehenden die Gelegenheit, die schreckliche
Scene mit anzusehen, zu benehmen, fiel, durch die schweren
Tritte des Grafen erschüttert, herab auf den Boden und ließ
nun eine Fernsicht offen, die alle mit der höchsten Bewunderung
nach der bezeichneten Stelle sehen ließ.
Zu gleicher Zeit ergoß die scheidende Sonne eine helle
Purpurröthe in die dürftige Stube und erleuchtete die ganze
Familie. Ueber Suschens Kopf schwamm ein leichtes Roth,
das sich an der länglicht runden Hutschachtel in elliptische
Form gebrochen hatte und ihr so das Ansehen eines Jesuskindes gab.
Hinter den bis auf den Boden herabhängenden Aesten
eines Live Oak lag das blutrothe Haupt der sinkenden Sonne,
und wenn sich die Moose des Live Oak, durch den leichten West
bewegt, auseinandertheilten, so schien es, als scheitelten sie deren Antlitz.
„Mutter, sieh' doch, wie schön Tantchen aussieht!“ rief
Gertrud Melanien zu. Sie, wie alle andern folgten dieser Bitte,
Eben verlief sich der letzte Rubin der Abendsonne auf
Cölestinens Gesichte, schwebte noch einen Augenblick wie ein
kleines Meteor auf ihrer Stirne, bis ihn das Auge trank.
Cölestine hatte sich vom Kamine, in das sie bisher geblickt,
abgewandt, und stand jetzt wie eine trauernde Niobe vor dem Grabe der Abendsonne.
„Mutter, sieh' doch, wie sonderbar. Tantchen aussieht --
sie schaut gar nicht mehr so verrückt“, sagte Gertrud wiederholt zu ihrer Mutter und zupfte sie am Kleide.
„Frau Gräfin“, flüsterte der Prinz Melanien ins Ohr,
„Ihre Schwester muß einst ein wunderschönes Mädchen gewesen sein?“
„Das ist eine sonderbare Frage, mein Prinz“, erwiderte Melanie frappiert.
„So sehen Sie nur hin, meine Grafin!“
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„Mein Prinz, entschuldigen Sie -- das ist ein unheimliches Gerede !“
„Aber Mutter, was ist denn mit Tantchen?“ rief Gertrud ziemlich laut dazwischen.
„Sehen Sie, meine Gräfin, auch Fräulein Gertrude --“
„Was, Fräulein Gertrude?“ unterbrach Melanie den Prinzen, „was haben Sie denn?“
Mit Cölestine war in der That eine auffallende Veränderung vorgegangen. Wenn
Sie früher immer gebückt ging und ihren Kopf aufdie eine Seite legte, so stand sie jetzt gerade
mit erhobenem Haupte. Sie schien aufeinmalgrößer geworden
zu sein, und ihre Hände ruhten sicher auf ihrem Busen. --
War es die so unerwartete Erscheinung ihres Verführers,
die sie so umwandelte in Stellung, Würde und Geberdenspiel?
Oder sollten die leichten Schatten des Wahnsinns, die seit ihrer
Entlassung aus der Irrenanstalt noch hie und da ihr Gehirn
umzogen, auf Einmal gänzlich verscheucht sein? Sollte sie noch
im hohen Alter mit lichtem Blicke in ihre gräßliche Vergangen
heit zurücksehen mussen? Sollte die Matrone erst jetzt beweis
nen, was sie als Mädchen nicht mehr im Stande war, da ihr
damals der böse Dämon des Irreseins das Gehirn erdrückt
hatte? Sollte die sechs und fünfzigjährige Cölestine die Gefühle
des Mädchens noch in sich bergen? Sollte das blühende Herz
der Jungfrau zwei und dreißig Jahre lang geschlummert haben,
um eines Tages wieder zu einer vollen Schöne und Fülle erwachen zu können?
Sollte der Busen der Matrone wieder zu wogen beginnen, nachdem er so viele, viele Jahre wie ein ver
welktes Blätterpaar am dürren Stiele hing? Sollte Amor
noch um die greifen Haare flattern, nachdem er so lange Zeit
aus den üppigen Locken verbannt war? -
Warum nicht? Saugt doch auch die Blume nur wenige
Augenblicke vor ihrem Hinscheiden an den taumelnden Staub
fäden eine ganze Welt voll Liebe! -- -- --
Cölestine war nicht mehr wahnsinnig. Schon beim ersten
Anblicke des Priesters sah sie mit fürchterlicher Klarheit in Ihre
Jugend zurück. Nur tanzten hie und da noch auf den wild bewegten Wogen des
Gedankenmeeres die verabschiedeten Geister der Nacht des Wahnsinns.
Der Prinz, Melanie, der Graf,Hugo und Constanze sammelten im Stillen die
Worte Cölestinens, wie sie an den Priester gerichtet waren.
Aber nur der Prinz entzifferte richtig diese grauen
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Prinzen, der seinerseits ganz verwirrt über diese außerordent
liche Schönheit und den majestätischen Anstand Cölestinens,
derselben mit einem leisen Handdruck ihr zärtliches Wohlwollen zurück gab.
Hugo und Constanze getrauten sich kaum zu athmen -- so
sehr waren auch sie von diesem erhabenen, feierlichen Momente ergriffen.
Cölestinens Blicke richteten sich jetzt auf das Portrait Emil’s über dem Kamine,
„Wie schön, wie schön!“ rief sie plötzlich begeistert aus,
„das ist Dein Gott, Melanie! nicht wahr, Schwester?
„Ja, meine liebe Schwester“, entgegnete dieselbe in wehmüthigem
Tone, „es ist der Gott meines Herzens, der Sohn Melaniens -- aber was ist in Deiner Seele vorgegangen,
Cölestine? wie hängt Dein Blick so trunken an jenem Bilde!“
„Tantchen hat sich in Emil verliebt“, sagte Hugo zu Constanze, aber nicht
mehr mit spöttischer, sondern theilnehmender Miene. -- -- „Wenn sie erst den wirklichen Emil gesehen hätte,
Constanze?“
„Ich weiß nicht, Bruder -- aber Du bist eben so schön --
Emil kam mir immer vor wie ein Mädchen oder eine junge
Frau; ich lieb' das nicht, Bruder, wenn die Männer zu schön
sind- sie haben dann gewöhnlich nicht viel Geist --“, antwortete Constanze.
„Du magst wohl recht haben“, bejahte Hugo und legte seine Stirne in
Falten, als wollte er damit nachdenkender scheinen und seiner Schwester zu gleicher Zeit einen Beweis
für die Richtigkeit ihrer Bemerkung liefern.
„Eitel bist Du doch, Hugo“ sagte Constanze, der das
forcirte Mienenspiel ihres Bruders nicht entgangen war.
„Eitel ist nicht meine geringste Tugend“, bemerkte derselbe
trocken, „wenn ich nicht ein bischen eitel wäre, so wär' ich schon längst aller Civilisation baar.“
„Ich habe neulich auf dem Markte einen Indianer gesehen,
den Du doch keinen civilisierten Menschen nennen wirst, und er schien doch ziemlich eitel.“
„Das ist durchaus kein passender Vergleich, Constanze --
übrigens verstehst Du das nicht.“
Jetzt nahm das Benehmen Tantchen's zu wiederholtem
Male ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Diese hing schluchzend
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am Halse ihrer Stiefschwester und schien sie mit ihren Thränen fast zu ersticken.
„Cölestine, meine liebe gute Schwester, was ist Dir schon
wieder? -- Du blicktest doch vorher noch so freundlich und froh?“ frug Melanie.
„Eben deßhalb, meine Schwester“, erwiederte Cölestine, in
Einem fort schluchzend, „was war ich, Melanie, und was bin ich jetzt?“
„Es ist doch eine fürchterliche Rache der Natur, den
Wahnsinn zu brechen, damit der Verstand die Seele martern und quälen kann“, sagte leise zum
Grafen der Prinz und sah demselben fragend in die Augen.
„Ich kann hier nur staunen, königl. Hoheit, mag mir die Zukunft hierüber eine richtige
Deutung geben“, sagte gedehnt der Graf und stellte sich mit verschränkten Armen etwas näher an Melanien und Cölestine.
Gertrude wich nicht von der Seite des Prinzen. Hie und
da sah sie zu ihm auf, als wollte sie ihn um etwas fragen.
Amelie hatte sich ängstlich zwischen ihre Mutter und Tantchen Cölestine geschoben und
versuchte sie mehrere Male aus einander zu bringen, da sie glaubte, Cölestine wolle ihrer Mutter etwas zu Leide thun.
Da ihr dies nicht gelang, so fing auch sie zu weinen an. -- -- --
Wo folgenschwere Ereignisse und unerwartete Zufälle so
rasch auf Einander in die Peripherie eines vom Unglücke heimgesuchten
Familienkreises hineinstürmen, möchte man gerne
den Wunsch erfüllt sehen, die Feder in die Hand einer höheren
Macht legen zu können, damit sie es selbst unternehme, ihre
Schrecknisse und Schauder dem Papiere anzuvertrauen.
Cölestine hing mit der ganzen Schwere ihres Körpers am
Halle ihrer Schwester, die sich alle nur erdenkliche Mühe gab,
sich noch aufrecht erhalten zu können. Das Antlitz Cölestinens
war zurück gewandt auf das Bild über dem Kamine.
Schön waren die Züge Cölestinens, so rein und bleich wie Alabaster -- aber auch so kalt.
„Barmherziger Gott! Tantchen ist todt“, schrie Melanie
entsetzt auf und suchte mit ihren Augen ihren Gatten.
„Todt?“ schrieen. Alle fast zu gleicher Zeit, außer dem
Prinzen, der gefaßt auf Melanie zuging, um sie aus der Umarmung der entseelten Schwester zu befreien.
„Ich war darauf vorbereitet, es konnte ja nicht. Anders
kommen -- diese plötzliche Verklärung ihres Antlitzes -- --
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jenes Bild -- -- meine liebe Gräfin, es war nicht anders
möglich,“ sagte der Prinz ruhig, mit einem Anflug von Feierlichkeit in der Betonung einer Worte.
„Ihre Genesung war der Tod, mein Prinz“, entgegnete
ihm Melanie mit zitternder Stimme.
„Das erwachte Feuer mußte das Herz tödten -- es kam
zu schnell.“ --
Hugo, der auf den Wink seines Vaters zur Stube hinaus
geeilt war, um nach einem Arzte zu gehen, hatte das Glück,
gleich wenige Schritte vom Hause entfernt einem in die Hände
zu laufen und kam jetzt mit demselben zur Thüre herein.
„Nicht wahr, Tantchen ist nicht todt, Doktor? Nicht
wahr, sie schläft nur?“ plauderte Amelie und kußte die Ent
seelte auf die kühlen Lippen. Nach mehreren vergeblich angestellten Versuchen
hielt ihr der Arzt endlich einen kleinen Spiegel vor den halbgeöffneten Mund und sagte:
„Kein Athem trübt ihn mehr -- sie ist todt.“ --
Das oberflächliche Verdikt des Coroners lautete: gestorben am Schlagflusse. -
* *
*
Der Prinz von Würtemberg blieb die ganze Nacht über
bei der Familie und übernahm es, bei Tantchen zu wachen, der man, so gut es in der Schnelligkeit und mit dem
vorhandenen Material möglich war, durch Uebereinanderlegen der Matratzen ein Paradebett hergerichtet hatte.
Hugo ging noch in die Stadt und holte auf freundliches
Ersuchen des Prinzen mehrere Leuchter sammt Wachskerzen, dann noch verschiedene andere Utensilien und Gegenstände,wie
sie eben für die gegenwärtige Situation als nöthig erachtet wurden. Den Prinzen leitete bei diesen Vorkehrungen in der so
ärmlichen Wohnung eine ganz eigenthümliche, aber richtige und von feinem Gefühlstacte zeugende Idee. Es wäre keine
Schwierigkeit gewesen, die gräfliche Familie noch diese Nacht in eine passende und ihrem Stande angemessene Wohnung zu bringen
-- da außer dem Bilde das ganze Meublement zuruckgelassen werden konnte -- der Prinz wußte aber, daß er bei einem zu
voreiligen Entgegenkommen sicher auf eine Opposition der
Ehegatten hätte rechnen dürfen, und außerdem noch die Stille
und Weihe dieses Momentes durch eine unverdiente, glänzende
Außenseite beeinträchtigt worden wäre.
„Das hätten wir nicht geglaubt, Bruder, daß wir für ein Todtenbett das
Moos von den Live Oaks herunternehmen
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zierte noch die stattliche Brig „Dolores“ unsern Wharf,
deren Capitain, Antoine Du Ponteil, dem Untersteuermann
Viala alle mögliche Hulfe angedeihen ließ, in so generöser
Weise, daß er den für die See dienstuntauglich gewordenen
Mann, nicht nur auf eigene Kosten einem geschickten Arzte
übergab, sondern ihm auch zur Errichtung eines Boardinghauses
in der dritten Municipalität verhalf. Da dem
Unglücklichen beide Arme und das linke Bein abgenommen
werden mußten, so traf auch diese Zuvorkommenheit mit seiner Erstenzfrage zusammen.
Leider war der unglückliche Viala Einer von jenen gutmüthigen Saufbrüdern, die keinen
Schluck allein zu sich nehmen können, sondern stets eine Gesellschaft der auserlesensten Art um sich haben müssen. Das
hätte den ehemaligen Untersteuermann noch nicht in's Verderben gestürzt. Aber daß seine unzertrennlichen Zechbrüder so
immense Löcher in den Taschen hatten, war ein Ruin. Seine mehr als gewöhnliche Neigung zu dem schönen Geschlechte half
ihm nebenbei auch ein wenig seine Dobraen aus der Börse ziehen. Besonders war er wüthend auf Indianer Creolinnen
verpicht und verfiel stets in einen gefährlichen Parorismus, wenn ihm gerade eine Caffe nicht erlaubte, die gerechten
Ansprüche jener übermüthigen Bajaderen zu befriedigen. Als Viala bereits so weit herabge kommen war, daß er seine
Candygläser, leeren Aleflaschen und Steinkrüge verkaufen mußte, wollte es sein Glück, daß er mit einer Hamburgerin
bekannt wurde, die ihn bewog, ihr sein Boardinghaus sammt Einrichtung um einen mäßigen Preis zu überlassen.
Einmal im Besitze dieser liebenswürdigen Dame -- die,
nebenbei gesagt, durch ihre Liebenswürdigkeit einst ganz Hamburg
auf die Beine brachte -- bekam das Seemanns-Boardinghaus
ein ganz anderes Ansehen. Unter ihr erhielt „Seaman's
Erchange“ den Namen „Hamburger Mühle“, und zwar auf
folgende Weise: Eine Dame wie Frau V* -- wie sie sich nemlich
nennen ließ -- mußte bald der Mittelpunkt aller Wünsche
und Thorheiten des verliebten Rouéthums und vagabondiren
den Verliebtseins werden. Die ungehobelten Söhne Neptun's
waren in kurzer Zeit von dem Stutzerthum der dritten Municipalität
verdrängt, das sich meistens aus Schwindlern jedweder
Art, ohne Beschäftigung herumstreifenden Clerks, ungerathenen
Söhnen vermögender Eltern und überhaupt reichen und nicht
reichen Faulenzern par excellence, recrutierte. Obwohl Frau V*
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die lose Conduite ihrer Gäste sehr gut kannte, so war sie
doch nicht ungelegen darüber. Im Gegentheile hatte sie sehr
bald eingesehen, daß ihr diese lockeren und leichtsinnigen Vögel
eine anständige Leibrente verschafften. -- „Es geht halt nichts
über unsere Hamburgerin“, flüsterten sich die hoch- und plattdeutschen
Gentlemen zu, wenn sie Frau V* mit ihrem prickeln
den Witze bewirthete. Da blieb „unser Hamburg“ das Morgen-Mittag- und
Abendgebet und „Berg“, „Ahrens (Muller)“
„Locke am Zeughausmarkt“,„Aeltermann Haase's Crispinchen“
waren die Kügelchen am Rosenkranze, die man andächtig ableierte. Frau V*
war eine der keckten, lebhaftesten und fameufesten Brünetten -- d.h. nicht mehr schön genug, um
mit Erfolg auf dem neuen Jungfernstieg zu promenieren, aber befriedigend schön, um als Besitzerin
eines Private-Boardinghauses gute Geschäfte zu machen. Zu dieser Zeit hieß die „Hamburger
Mühle“ noch kurzweg „Private Boarding, Mrs. V*“ und hielt
sich auch anfanglich ganz strict an die Normen und den Wirkungskreis eines solchen Institutes.
Nur in Einem Punkte variierte sie von ihren übrigen Metiergenossinnen -- sie hatte
memlich keine Tochter. Aus welchen Gründen, konnte bisher
auch nicht im Entferntesten ermittelt werden. Dies hält uns
jedoch nicht ab, des Ursprungs der Benennung „Hamburger
Mühle“ Erwähnung zu thun, obwohl wir wissen, daß wir den
echten New-Orleanser Schooßkindern hiemit nichts Neues sagen.
Wie alle Hamburgerinnen, so hatte auch Frau V* oft die
barockesten und originellsten Einfälle, und wenn sie ihre gute
Laune gerade auf eine verfängliche Seite warf, so war sie unübertrefflich. So hatte
die Eines Abends -- es war gegen das
Ende Mardi Grass's -- ihren Boarders ein brillantes Souper
servieren lassen, wobei auch nichts fehlte, was den Gaumen
habitueller Schmarotzer und Gourmands auf die befriedigendste Weise zu kitzeln im Stande war.
Ehe man sich niedersetzte, erbat sich Frau V* , nachdem sie
vorher dreimal geschellt hatte, von ihren Gästen das Wort:
„Sie werden gewiß schon die Bemerkung gemacht haben, meine
Herren, daß auf Ihren Tellern Servietten liegen, die Sie von
heute ab jeden Tag zur Souperzeit vorfinden werden. Entfalten
Sie diese Servietten nicht so hastig, sondern theilen Sie
behutsam die Enden auseinander und suchen Sie, ohne daß es
von ihrem Nachbar bemerkt werden kann, nach einer rosarothen
Schleife, die sich nur in Einer Serviette vorfinden wird. Wer
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diese Schleife in seinem Besitze hat, soll sich genau nach dem unter derselben gehefteten Zettel richten.“
Es vergingen drei Tage, ehe man diesem Geheimniß auf die Spur kam, das nur diejenigen
zu deuten verstanden, die die Glücklichen waren, diese rosarothe Schleife in ihren Servietten zu entdecken.
Am vierten Tage kam es endlich heraus. Schellte man zum Souper, so frug man sich jetzt
gegenseitig mit geheimnißnißvoller Miene:
„Wer von uns mag wohl die Schleife vorfinden, um heute
Nacht mit unserer schönen Hamburgerin „zur Muhle“ zu gehen?“
Das Private Boarding aber nannte man von dieser Zeit
an: Hamburger Mühle, oder richtiger -- die Mühle der Hamburgerin. --
So findet man es in den Annalen der alten Hamburger Mühle vom Jahre 1838 - 1842 verzeichnet.
Nun traten bedeutende Aenderungen in diesem Etablissement ein, die es bereits zwei bis
drei Jahre später kaum mehr in seinem früheren Colorite erkennen lassen. Frau V* , die
rasche, kecke, vielbewährte Freundin und Gespielin, wurde nemlich acht Tage nach Beerdigung des Mardi Grass auf eine so
schreckliche Weise von den Pocken heimgesucht, daß, als sie sich
wieder das erste Mal unter ihren Gästen sehen ließ, man es
nicht mehr für nöthig fand, ihr nur im Geringsten eine größere
Aufmerksamkeit zu schenken, als sie gewöhnlicher Anstand und
einmal hergebrachte conventionelle Manieren erforderten. Wenn
das Gesicht einer Nonne von Pocken verzerrt wird, so hat dies
nicht viel zu bedeuten, da es ja nicht verboten ist, mit Pocken
besät sich unter die Cherubim und Seraphim zu mengen; aber
wenn das Cupidoantlitz eines weiblichen Roué durch irgend
eine Krankheit, z.B. Pocken, verunstaltet wird, so bleibt nichts
anderes übrig, als die noch übrige Zeit seines Lebens einen
soliden und anständigen Wandel zu führen. Denn was die
Schönheit kleidet, kleidet nicht auch die Häßlichkeit. Wenn es
der schönen Frau V* allerliebst stand, ein bischen liederlich
und fidel zu sein, -- natürlich von dem Standpunkte aus beurtheilt,
aufdem sie fußte -- so war die durch Pocken entstellte sicher nicht
beneidenswerth, wenn sie es hätte wagen
sollen, noch weiters zu prätendieren, von der Männerwelt auf
den Händen getragen zu werden. Frau V* wußte, was sie
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